© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/04 29. Oktober 2004

Barbarei
Jährlich bis zu 800 Spätabtreibungen
Claudia Hansen

Der Gedanke ist nur schwer erträglich, daß in Deutschland fast jeden Tag zusätzlich zu den "normalen" Abtreibungen auch sogenannte Spätabtreibungen in weit fortgeschrittenen Stadien der Schwangerschaft stattfinden, bei denen schon lebensfähige Kinder mit roher Gewalt aus dem Mutterleib gezerrt und getötet werden. Manchmal warten Arzt und medizinisches Personal passiv ab, bis das schwache Lebenslicht des mißhandelten "Neugeborenen" endlich ausflackert. Das kann Stunden dauern. Und ganz selten will ein besonders zäher Abgetriebener einfach nicht sterben, wie im Fall Timm geschehen. Der kleine Junge aus Oldenburg lag stundenlang unversorgt im OP-Saal, kam später zu Pflegeeltern und konnte gerade seinen siebten Geburtstag feiern. Timms Martyrium und Überleben gemahnt an die vielen unbekannt Verstorbenen.

Der neuerliche Vorstoß von Abgeordneten der CDU zum Thema Spätabtreibungen geht gewiß in die richtige Richtung. Spätabtreibungen werden bislang vom deutschen Staat hingenommen, wenn die "psychische Gesundheit" der Mutter durch die Erwartung eines behinderten Kindes als gefährdet gilt. Mit dieser sophistischen Rechtfertigung wird das "Diskriminierungsverbot" von Behinderten (Tötungsverbot klingt gar zu hart) außer Kraft gesetzt. Die stets in Menschenrechtsrhetorik schwelgenden Grünen pressen die Lippen zusammen und schweigen. In der letzten Legislaturperiode scheiterte ein ähnlicher CDU-Antrag. Allerdings zielt der CDU-Antrag explizit nur auf die Spätabtreibungen, deren Zahl in Deutschland zwischen hundertfünfzig und achthundert pro Jahr liegt.

Die Problematik massenhafter "normaler" Abtreibungen klammert die Union aus. Geschieht dies aus Feigheit oder Klugheit? Es ist klug, den Hebel an der schwächsten Stelle der Panzerung des Restunrechtsbewußtseins linker Abgeordneter anzusetzen, um die alten feministischen Reflexe zum Thema Abtreibungen zu umgehen. In den USA hat sich die Strategie von Lebensrechtlern bewährt, besonders abstoßende Abtreibungsmethoden in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen.

In seinem Urteil zur Neufassung des Paragraphen 218 des Strafgesetzbuchs gab das Bundesverfassungsgericht der Politik den Auftrag, die weitere Entwicklung beim Lebensschutz genau zu verfolgen.

Neun Jahre nach dem Richterspruch ist eine solche Prüfung der "Fortschritte" überfällig. Sie könnte nur eines ergeben: Es hat keine Verbesserung gegeben. Die absolute Zahl der gemeldeten Abtreibungen verharrt auf hohem Niveau, gemessen an der schwindenden demographischen Basis gebärfähiger Frauen ist die relative Abtreibungshäufigkeit sogar deutlich gestiegen. Ganz abgesehen von der ethischen Dimension muß die Frage lauten: Wie lange kann ein vergreisendes und aussterbendes Volk es sich leisten, ein Viertel des möglichen jährlichen Nachwuchses abzutreiben?


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