© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/04 29. Oktober 2004

Ein sehr sensibles Thema
Einwanderung I: Der Sachverständigenrat für Zuwanderung will mehr ausländische Ärzte, Apotheker, Pfleger, Ingenieure, Vertreter und Versicherungskaufleute
Josef Hämmerling

Auf massive Kritik und totales Unverständnis ist die Empfehlung des Sachverständigenra-tes für Zuwanderung gestoßen, 25.000 ausländische Arbeitskräfte anzuwerben, um "Engpässe" auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu schließen. Die Vorsitzende Rita Süssmuth begründete dies damit, daß derzeit geburtenstarke Jahrgänge mit guter Ausbildung in Rente gingen und geburtenschwache Jahrgänge mit schlechter Ausbildung nachrückten. Fehlen würden Ärzte, Apotheker, Pflegekräfte, Maschinenbau-Ingenieure, Handelsvertreter sowie Bank- und Versicherungskaufleute.

Angesichts von 4,35 Millionen Arbeitslosen meinte Bundesinnenminister Otto Schily, dies sei "ein sehr sensibles Thema, das sorgfältig geprüft werden" müsse. Der SPD-Politiker betonte, bei dem Rat handele es sich um eine Expertenkommission und nicht um ein politisches Entscheidungsgremium. Massive Kritik kam von der CSU. Nach Meinung des innenpolitischen Sprechers der Bundestagsfraktion, Hartmut Ko-schyk, ist die Süssmuth-Empfehlung von dem Willen einer massiven Ausweitung der Zuwanderung durchzogen.

Für diese Ansicht sprechen auch die wirtschaftlichen Fakten. Gerade im Bankgewerbe sind in den vergangenen Jahren Tausende von Arbeitsplätzen abgebaut worden - und ein Ende ist nicht abzusehen! So ging die Beschäftigtenzahl der Bankfachleute laut Bundesagentur für Arbeit (BA) zwischen 2001 und 2003 um 17.460 auf 577.701 Personen zurück. Gleichzeitig stieg die Zahl der arbeitslosen Bankfachleute um 32,4 Prozent auf 16.902 Personen. Ähnliches gilt für Versicherungskaufleute. Hier nahm die Zahl der Beschäftigten im gleichen Zeitraum um 9.938 auf 803.563 Personen ab. Die Arbeitslosigkeit in dieser Berufsgruppe stieg dagegen um 23,6 Prozent auf 26.148 . Zeitgleich sind die Arbeitgeber in beiden Branchen bemüht, mit älteren Arbeitnehmern eine Vorruhestandslösung zu finden.

Auch wenn es stimmt, daß derzeit Anlageberater und Bausparexperten fehlen, wäre es aber sicherlich sinnvoller, arbeitslose Bank- oder Versicherungskaufleute zu Bausparprofis umzuschulen, statt aus dem Ausland "Fachleute" zu holen, die mit den deutschen Spezifikationen sicher nicht vertraut sind und deshalb ohnehin angelernt werden müßten - von der Sprachkompetenz ganz zu schweigen.

In Polen und der Slowakei ist jeder Fünfte arbeitslos

Unsinnig sind die meisten Vorschläge des Rates für Zuwanderung auch deswegen, da mit den Aussiedlern ein ohnehin schon in Deutschland vorhandenes großes Arbeitsmarktpotential brachliegt. Dies gelte besonders für Maschinenbau-Ingenieure und Pflegekräfte, erklärte der Referent für Aussiedlerangelegenheiten des Bundes des Vertriebenen (BdV) Nordrhein-Westfalen, Heinrich Neugebauer, in Düsseldorf. So seien in den vergangenen 15 Jahren schätzungsweise 200.000 Akademiker, darunter ein Fünftel Maschinenbau-Ingenieure, als Spätaussiedler allein aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Da der Staat die notwendige Anpassung an die Bedingungen in der Bundesrepublik nicht gefördert habe, arbeiteten die meisten dieser hochqualifizierten Arbeitskräfte nun aber weit unterhalb ihrer Qualifikation, etwa als Dreher, Schlosser oder Schweißer. Nach Ansicht Neugebauers gibt es damit ein riesiges Potential, das mit vergleichweise wenig Aufwand ausgeschöpft werden könnte. Ebenso gebe es einige zehntausend Spätaussiedler, die problemlos binnen eines Jahres zu Pflegekräften umgeschult werden könnten. Diese Beispiele zeigen, daß es - von speziellen Ausnahmen abgesehen - ohne weiteres möglich wäre, die vom Rat angemahnten, der deutschen Wirtschaft angeblich fehlenden 25.000 Arbeitskräfte in Deutschland zu rekrutieren. Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und leerer öffentlicher Kassen wäre dies deutlich sinnvoller, als Personen aus dem Ausland zu holen, zumal ja die Erfahrungen aus der "Green Card"-Aktion für IT-Programmierer nicht unbedingt positiv waren.

Völlig ignoriert wird auch die am 1. Mai erfolgte EU-Erweiterung und der für 2007 geplante Beitritt Rumäniens und Bulgariens sowie spätestens 2009 der von Kroatien. Gemäß den Übergangsbestimmungen ist den Bürgern dieser Länder die freie Wahl des Arbeitsplatzes in einem EU-Land in sieben Jahren erlaubt. Allein eine Änderung dieser Regularien würde ein "Arbeitnehmerangebot" ungeahnten Ausmaßes aktivieren - und Deutschkenntnisse sind bei Millionen Ost- und Mitteleuropäern kostenlos inklusive. Gleichzeitig würde dies auch eine Entlastung der ohnehin sehr schwierigen Arbeitsmarktsituation in den meisten dieser Länder bedeuten.

Allein in Polen und der Slowakei ist fast jeder Fünfte arbeitslos - und das sind nicht nur Minderqualifizierte. Sollte das der deutschen Wirtschaft immer noch nicht langen: Mit der Türkei steht schon heute ein mit der EU assoziierter Staat bereit, wo ebenfalls Hundertausende nur allzugern auf eine freie Arbeitsstelle in Deutschland wechseln würden.


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