© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November 2004

9. November 1989
Rückkehr der Geschichte
Dieter Stein

Knapp fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall unterzeichneten die europäischen Staats- und Regierungschefs in Rom am vergangenen Freitag eine "europäische Verfassung". Der Begriff ist in Anführungsstriche zu setzen, weil das Unterzeichnete wenig über das hinausgeht, was bereits in den Jahren zuvor schlichter Vertrag genannt wurde. Im Gespräch mit dieser Zeitung sieht der SPD-Politiker Egon Bahr mit dieser "Verfassung" sogar Joschka Fischers Konzept einer europäischen Föderation auf Jahrzehnte gescheitert. Alle europäischen Völker wollten an ihren Nationalstaaten festhalten: "Noch sind wir uns in Deutschland offenbar gar nicht bewußt, daß wir in Europa auf de Gaulles Konzept vom Europa der Nationalstaaten zurückgeworfen sind!"

Es ist offenkundig, daß der maßgebliche Teil der politischen Klasse in Deutschland lieber heute als morgen den deutschen Nationalstaat in einer europäischen Föderation auflösen möchte. Auf einen Streich wäre man damit vor allem die Last der Vergangenheit los. Deutschland: Das wäre nur mehr ein schlechter Witz der Geschichte, eine Laune der Natur, die man aufgeklärt in Europa überwindet.

Schon einmal, vor exakt dreißig Jahren, versuchte ein deutscher Staat - die DDR - das Nationale loszuwerden. Im November 1974 ließ Erich Honecker die Verfassung der DDR ändern und alle Bezüge auf die Nation und Deutschland streichen (siehe Seite 12). Wir wissen, wo dieser Irrweg endete: Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer unter den Freudenrufen der Deutschen und ohne daß ein Schuß abgegeben worden wäre, in sich zusammen. Nicht nur die Angehörigen der SED-Nomenklatur hatten der Mauer, die Deutschland zerriß, ein hohes Alter prognostiziert und gewünscht: Die Repräsentanten des westdeutschen Establishments hatten uns damals inbrünstig zu erklären versucht, die deutsche Teilung sei eine konsequente, vernünftige Antwort der Geschichte auf den Irrweg der Deutschen und die Garantie des europäischen Friedens.

Vierzig Jahre der Teilung und deren geistigen Folgen in Ost und West konnten nicht über Nacht gelöscht werden. Der Übergang zur Normalität einer geeinten, selbstbewußten Nation ist fünfzehn Jahre später immer noch nicht gänzlich vollzogen. Die deutsche Neurose dauert an - dies zeigt die alljährliche Unfähigkeit, den Tag der deutschen Freiheit (9. November 1989) oder der Einheit (3. Oktober 1990) feierlich, fröhlich, festlich, mitreißend zu feiern. Statt dessen herrscht sauertöpfische Selbstzerknirschung vor, wühlt man in Deutschland lieber in alten Wunden, anstatt die Zukunft der Nation mit Enthusiasmus anzupacken.

Der 9. November 1989 zeigte, daß es keine geschichtlichen Einbahnstraßen gibt. Damals sind die Feinde der Nation katastrophal gescheitert. Auch heute, wenn es erneut darum geht, die europäischen Nationen in einem supranationalen, multiethnischen Gebilde aufzulösen, zeigt sich, daß dies nicht die letzte Antwort der Geschichte ist.


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