© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November 2004

Zurück in die Katakomben
Europa: Die westliche Wertegemeinschaft will unsterblich sein und mißtraut jedem, der sich ihrem Absolutismus nicht unterwirft
Eberhard Straub

Es gibt einen antirömischen Affekt." Mit diesem berühmt gewordenen "ersten Satz" leitete Carl Schmitt seine formal ebenso elegante wie energische Lobrede auf den Römischen Katholizismus und seine politische Form ein. Dieser Affekt machte sich während der Jahrhunderte in verschiedenen Abstufungen bemerkbar, aber immer als Ausdruck der gleichen Angst vor der unfaßbaren politischen Macht des römischen Katholizismus oder den darüber verbreiteten Mythen und "Einbildungen". Seit geraumer Zeit wird dieser Affekt unter energischen Laizisten wieder schriller und kämpferischer laut.

Da sich die Kirche kaum darauf zu beschränken vermag, der universalen Demokratie als spirituelle Animationsbewegung zu dienen, bestätigt sie weltumarmende Menschenfreunde, denen alles fremd ist, was ihrem Menschenbild nicht zärtlich verspielt überraschenden Kolorit verleiht, in ihrem Verdacht, in der westlichen Wertegemeinschaft nicht "angekommen" zu sein. Gibt ein Katholik zu erkennen, in der Communio mit seiner Kirche zu glauben und zu leben, also kein "kritischer Katholik" zu sein - der einzige, der noch als entwicklungsfähig gilt -, trifft ihn sofort der Vorwurf, ein Fundamentalist zu sein.

Denn nichts verstört und verärgert mittlerweile so sehr wie ein Glaube, eine Überzeugung, die ein Fundament hat, also fest gegründet ist auf einen unerschütterlichen Felsen wie die Kirche Christi. Der Glaube tummelt sich nicht auf einem Markt der Möglichkeiten mit beliebigen Wahrheitsvermutungen im Angebot. Er vertraut dem befreienden und erlösenden Gott, der die Wahrheit ist und jeden dazu beruft, in seine, in die Wahrheit einzugehen.

Die Laizisten hingegen berufen sich auf Werte und hoffen, daß eine vorläufig westliche Wertegemeinschaft einmal möglichst die ganze Welt als one world umfassen und humanisieren werde. Werte sind allerdings beliebig. Sie können aufgewertet oder abgewertet werden. Auf jeden Fall werden sie gesetzt, je nach den wechselnden Bedürfnissen der Wertvollen, die in ihrem Interesse Werte entwerten, um der stets drohenden Wertverwahrlosung oder Herrschaft von minderen Werten vorzubeugen. So kann es zur Tyrannei der Werte kommen, die eine Tyrannei der Wertsetzer und ihrer Interessen ist. Werte herrschen nicht, sie werden geltend gemacht von denen, die mit diesen Werten herrschen wollen.

Buttigliones Äußerungen erregten heftige Empörung

Auch daran erinnerte beharrlich Carl Schmitt. Daran erinnert jetzt "der Fall" Rocco Buttiglione, den "wertbewußte Europäer" auslösten und zu ihrer ureigensten Angelegenheiten machten. Dieser italienische und katholische Philosoph - zugleich christlich-demokratischer Politiker - macht keinen Hehl daraus, ein katholischer Christ zu sein. Als solcher ist er offenbar ein zersetzendes Element, eine Gefahr für Europa als Wertegemeinschaft und darf deshalb nicht das Ressort Justiz und bürgerliche Freiheiten in der Europäischen Kommission übernehmen.

Der gebildete und sprachgewandte Professor erregte mit keineswegs unbedachten Äußerungen zur Homosexualität und zur Situation berufstätiger Frauen unverhältnismäßige Empörung. Er nannte Homosexualität eine Sünde und gab im Rechtsausschuß des Europäischen Parlamentes zu bedenken, "daß Frauen heute überlastet sind und daß wir eine Politik entwickeln müssen, die es Frauen erlauben wird, auf der einen Seite Mütter zu sein und auf der anderen Seite ihre eigenen Talente im Beruf zu entwickeln. Wir brauchen die Politik dafür, weil der Markt allein Frauen diese Möglichkeit nicht gibt. Das ist eine große Verantwortung, weil die Familie eine wichtige Rolle spielt ... Wir haben bisher keinen angemessenen Ersatz für diese Rolle gefunden".

Diese Bemerkungen bestätigen nicht unbedingt die "reaktionäre" und "verstaubte" Auffassung der Katholischen Kirche, wie Aufgeregte behaupteten. Sie hatten ganz offensichtlich die Ruhe verloren, zuzuhören oder aufmerksam zu lesen. Buttigliones Äußerungen unterscheiden sich überhaupt nicht von den Überlegungen sämtlicher Familienpolitiker, die wie ihr Name sagt, sich um die Familie kümmern, solange kein Ersatz für die Rolle der Familie gefunden ist. Vielleicht gibt es keinen Ersatz dafür, vielleicht aber ist er vorerst noch nicht gefunden. Mehr sagt Buttiglione nicht, weil er wie die Familienpolitiker insgesamt nicht mehr wissen kann.

Es handelt sich um pragmatische Überlegungen, Belastungen der Frauen in Beruf, Ehe und Familie möglichst abzuschwächen und auszugleichen. Nur wer überhaupt nicht willens ist, sich auf Argumente eines Katholiken noch einzulassen, kann daraus schließen, daß Buttiglione die Frau wieder als Heimchen an den Herd schicken, sie im Haus festhalten und ihr als Ausgang höchstens den Kirchgang erlauben wolle. Solche Interpretation des Textes ist schlichtweg grotesk.

Im Einklang mit den Lehren der Kirche

Nicht minder grotesk ist die Unterstellung, der "Macho" Buttiglione habe eine homophobe Einstellung und damit Intoleranz bekundet. Als Katholik sprach er von Sünde und gebrauchte damit einen Begriff, mit dem die "Kinder der Welt" nicht behelligt werden wollen. Vor allem die Sexualität soll unbedingt sündenfrei sein, überhaupt unproblematisch, damit das schönste Vergnügen in der Spaßgesellschaft - more joy of sex bis ins fortgeschrittene Alter - nicht durch sauertöpfische Bedenken eingeschränkt werde. Die Kirche, die Sexualität immer in Verbindung mit der Ehe und Familie sieht, hält sehr vieles für sündhaft, was allein und mit anderen Spaß macht. Aber bislang ist noch keiner auf den Gedanken gekommen, ihr Heterophobie vorzuwerfen.

Die Kirche sieht in der vagabundierenden Lust und der phantasievollen Befriedigung leidenschaftlicher Neugierde keinen sich selbst genügenden, letzten Zweck. Sie spricht von Tugend und Tugenden und verweigert sich der zeitgemäßen Bitte der nach sexueller Emanzipation Bedürftigen: Hilf meiner Leidenschaft, nicht meiner Tugend. Das mögen phantasievolle Zeitgenossen für töricht, weltfremd oder gar ärgerlich halten. Doch der Kirche war von ihrem Stifter - Jesus Christus - versichert worden, daß die Kinder der Welt sie als töricht, lächerlich und als Ärgernis empfinden würden.

Außerdem ist nicht nur der Homosexuelle ein Sünder. Alle Menschen sind Sünder, und erst deshalb erbarmt sich Gott mit seinen Gnadenmitteln der schwachen Menschen. Die Sündhaftigkeit ist ja gerade die Bedingung, um erlöst werden zu können. Darin liegt das Geheimnis der Sünde, der glückbringenden Schuld. Doch wenn die Kirche lehrt, daß Homosexualität Sünde sei, verlangt sie zugleich, den Homosexuellen, die ihre Veranlagung schließlich nicht gewählt haben, wie es im Katechismus heißt, mit Achtung und Takt zu begegnen. "Man hüte sich, sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen. Auch diese Menschen sind berufen, in ihrem Leben den Willen Gottes zu erfüllen." Insofern unterscheidet sich der homosexuelle Sünder überhaupt nicht von allen anderen Sündern. Wie alle kann er sich Schritt für Schritt der christlichen Vollkommenheit mit dem göttlichen Beistand annähern. Im übrigen sollte nicht vergessen werden, daß das Keuschheitsgebot das sechste, nicht das erste und damit wichtigste Gebot ist.

Wird all das mitbedacht, dann läßt sich Buttiglione gar nichts vorwerfen. Er befindet sich als Katholik im Einklang mit der Lehre seiner Kirche. Im Ausschuß für bürgerliche Freiheiten berief er sich auf Immanuel Kant, der eine klare Unterscheidung zwischen Moral und Recht machte. "Viele Dinge, die nicht verboten werden sollten, können doch als unmoralisch betrachtet werden. (...) Ich mag denken, daß Homosexualität eine Sünde ist, aber das hat keine Auswirkungen auf die Politik. (...) Ich empfände es als unangemessene Betrachtungsweise des Problems, vorzugeben, daß alle Menschen in moralischen Fragen übereinstimmen müßten. Wir können eine Gemeinschaft von Bürgern aufbauen, auch wenn wir verschiedene Meinungen über manche moralische Fragen haben. Der Auftrag ist vielmehr Nichtdiskriminierung. Der Staat hat kein Recht, in solche Fragen einzugreifen".

Rocco Buttiglione kann gar keinen anderen - ursprünglich einmal liberalen - Standpunkt einnehmen, weil er als katholischer Christ ebenfalls nicht diskriminiert werden möchte. Deshalb erinnerte er auch mit Nachdruck bei seinem "Verhör" im Parlamentsausschuß für bürgerliche Freiheiten daran, "daß ein Mensch ein guter Katholik und zugleich ein guter Europäer sein kann. Wäre dem nicht so, dann könnten zu den großen Europäern weder Adenauer noch de Gasperi noch Schumann noch Helmut Kohl rechnen". Was dem umsichtig argumentierenden Professor höchstens vorzuwerfen wäre: daß er Charles de Gaulle absichtlich oder unbedacht nicht nannte, den von heute aus gesehen wahrscheinlich großartigsten Europäer, der gerade nicht in Vergessenheit geraten sollte.

Allerdings: An katholische Europäer mögen diejenigen, welche ein laizistisches Modell Europa durchsetzen wollen, nicht unbedingt erinnert werden. Pikanterweise wurde die sogenannte Verfassung Europas - Teile Europas gehören gar nicht zur Union, während asiatische Landschaften ihr eingemeindet werden sollen - in einem Prunksaal unterschrieben, in dem die barock-bewegten Statuen zweier Päpste - Urban VIII. und Innozenz X. - eindringlich an die Katholische Kirche als geistige Machtform erinnerten. Rom ist eben nicht nur das Rom der Caesaren und redseliger Journalisten wie Cicero.

Nach den Katastrophen im zwanzigsten Jahrhundert, als sich gerade katholische Humanisten anschickten, die Europäer untereinander zu versöhnen, war nicht viel übriggeblieben als Rom, das christliche Rom, das einst den römischen Humanismus durch die Untergänge und Verwandlungen der Welt in eine neue Welt hinüber rettete, erneuert durch die Christen. Nach allen totalitären Verführungen schien das christlich-antike Erbe Rettung und Schutz zu bieten, damit neues Leben aus Ruinen wachsen könne.

Von dieser christlich-humanistischen Renaissance ist nicht mehr viel erhalten. Denn nicht nur die Kirche oder das Christentum, der Monotheismus überhaupt gilt mittlerweile als der Verursacher alles Bösen, aller Kriege und allen Elends auf dieser Welt. Der Dritte Weltkrieg, von dem mit sorgloser Selbstverständlichkeit gesprochen, zuweilen in einer verplauderten Zivilisation auch nur geplaudert wird, ist vordergründig der Krieg gegen den Islam, gegen den Fundamentalismus. Was Fundamentalismus ist - eine monotheistische Verirrung -, das bestimmen die Verfertiger der westlichen Wertegemeinschaft.

Alles, was nicht ihren Wertvorstellungen entspricht, ist minderwertig oder geistig-unwertes Leben, das abgetrieben werden muß. Obschon die Religionsfreiheit als Grundrecht garantiert ist, muß Religion doch "sozialverträglich" sein, was heißt: mit westlichen Werten kompatibel, um tatsächlich geduldet werden zu können. Gläubige Christen wie Buttiglione sind sozial unverträglich, weil sie an einen Gott glauben, der in der europäischen Verfassung gar nicht vorgesehen ist, dem aber unter Umständen eher gehorcht werden muß als dem Kaiser der alten Römer oder den Verfassungspatrioten, die eine Unfehlbarkeit beanspruchen, die erheblich die sehr begrenzte päpstliche übersteigt.

"Die Kirche ist das unsterbliche Nein gegen jeden Staat, der sein endgültig beglückendes Reich auf dieser Erde allein bauen will oder der in Überwucherung seines absoluten Machtanspruches auch das Religiöse noch in seinen allein geltenden Rechtsbereich zwingt." Dachte der Theologe und Jesuit Hugo Rahner (1900-1968) nur an den Staat, so ist es längst die Gesellschaft, die den Staat zu ihrem Büttel machen möchte. Die Christen hatten den heidnischen Staat der Römer als Obrigkeit anerkannt, selbst wenn sie verfolgt wurden, und sie wurden oft verfolgt. Die Verfechter der neuen Religion alles versöhnender Menschlichkeit, die mitten aus der Gesellschaft kommt, verfolgen nicht, sie quälen nicht, sie verwerfen nur als Unwert, was andere glauben und sorgen demgemäß für "Berufsverbote", wie für Rocco Buttiglione.

Der Westen wacht über Rechtgläubigkeit

Sie folgen ihrem Propheten Sarastro, der in der Humanisten liebsten Oper - "Die Zauberflöte" - mit sanft geölter Stimme jedem das Recht verweigert, ein Mensch zu sein, der nicht von den Erlösungsangeboten seiner Mitmenschlichkeit Gebrauch machen will. Sarastro ist selbstverständlich ein großer Liberaler. Aber schon der aus einer katholischen Adelsfamilie stammende Joseph von Eichendorff (1788-1857) mokierte sich über die vielen Liberalen, die in Nachahmung des Sarastro menschheitsbeglückend ihre Arme ausstreckten - "Seid umschlungen, ihr Millionen" -, sie jedoch sofort zurücksinken ließen, sobald ein Katholik sich in diese Umarmung hineinstürzen wollte.

Der Ursprung des Liberalismus - dessen Erbe der Laizismus ist - liegt im Antiklerikalismus, im Kampf gegen die Kirche, die infame, die gemeine, die vernichtet gehört, wie Voltaire es verlangte. Mittlerweile geht es nicht mehr um die Kirche allein - der Monotheismus, der einzige Gott ist der Gegner. Wer an diesen Gott glaubt, der vor aller Zeit da war, die Zeit in Bewegung setzte und sie wieder aufheben wird, wann immer es ihm beliebt, weiß, daß alle Staaten, Gesellschaften, Verfassungen vergängliche Erscheinungen sind und deshalb jeweils unzulänglich.

Die westliche Wertegemeinschaft will unsterblich sein. Sie beansprucht dauernde Gültigkeit ihrer willkürlichen Werte und muß jedem mißtrauen, der sich ihrem Absolutismus nicht unterwirft und jenseits aller Werte ein Sum-mum Bonum verehrt, das gerade an ihre Historizität erinnert. Denn der "Westen" - die westliche oder westeuropäische Wertegemeinschaft - ist eine Religionsgemeinschaft, die energischer als die Kirche über Rechtgläubigkeit wacht.

Die Christen, die stets eine Freiheit vor der Welt mit ihren Forderungen beanspruchten, wurden in den Katakomben zu einer die Welt verwandelnden Macht. Der Christ braucht keine Furcht vor Diskriminierung zu haben, weil Gott ihn nicht diskriminiert, was immer auch ein Europäisches Parlament sagen mag, dessen Zusammensetzung Minderheiten ganz zufällig bestimmen. Allerdings mag es nicht ausgeschlossen sein, daß die Christen, die an den dreieinigen Gott glauben, wieder zurück in die Katakomben abgedrängt werden, um abermals - vielleicht - von dort aus eine Welt zu befreien, welche die Freiheit nicht liebt, weil sie das Pluriversum nur als Universum verstehen möchte.

Foto: Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi (l.) und sein Außenminister Franco Frattini unterzeichnen am 29. Oktober in Rom die EU-Verfassung: Im Hintergrund erinnert die Bronzestatue von Papst Innozenz X. (1574-1655) an jene Zeit, in der die Katholische Kirche noch eine Machtform war.

 

Dr. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, ist habilitierter Historiker, Publizist und Buchautor. Von 1977 bis 1986 war er Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, danach bis 2002 freier Mitarbeiter. Heute lebt er in Berlin.


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