© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November 2004

"Wir müssen lernen, wieder eine normale Nation zu sein"
Egon Bahr über Deutschland fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall, die "Flucht" der Deutschen nach Europa und die notwendige Rückkehr zum Nationalstaat
Moritz Schwarz / Dieter Stein

Herr Professor Bahr, am 9. November jährt sich der Fall der Mauer, der den Weg zur staatlichen Deutschen Einheit freigemacht hat, zum 15. Mal. Brauchen wir weitere 15 Jahre, um endlich auch die sogenannte innere Einheit zu gewinnen?

Bahr: Es stimmt, die deutsche Einheit ist zwar außenpolitisch fehlerfrei bewerkstelligt, innenpolitisch aber in den Sand gesetzt worden. Neben handwerklichen Fehlern haben wir vor allem die Mentalitätsunterschiede der Deutschen hüben und drüben nicht berücksichtigt.

Haben Sie dieses Problem schon früher gesehen?

Bahr: Ich beziehe mich in diese Kritik ein. Ich habe geglaubt, daß durch die millionenfache Besuche und die Tatsache, daß das Westfernsehen im Grunde ein gesamtdeutsches Fernsehen war, die Ostdeutschen gewußt haben, wohin sie wollten. Wir haben nicht bedacht, daß sich die Deutschen bei diesen Besuchen immer nur die Sonntagsgesichter gezeigt und daß die Menschen in der DDR zwar nach Westen, die in der Bundesrepublik aber ebenfalls nach Westen geschaut und sich so die Blicke der Deutschen in Ost und West nie getroffen haben. Die Unterschiede einer vierzig Jahre wirkenden Sozialisierung in einem kollektivistischen und in einem individualistischen Gesellschaftssystem sind so groß, daß sie wohl nicht mehr anders überwunden werden als durch den biologischen Ablauf. Unsere Einheit, so müssen wir wohl leider feststellen, ist keine Sache von zwei Jahrzehnten, sondern von Generationen.

Ein Trost bleibt, für die außenpolitische Betrachtung ziehen Sie ein anderes Fazit.

Bahr: Zumindest gibt es hier einen Fortschritt. Nach mehr als vierzig Jahren, während derer die großen Fragen der Außenpolitik von den "Großen" entschieden worden sind, haben die Deutschen diesen Zustand so verinnerlicht, daß es einer großen Anstrengung bedarf, ehe sie ins Bewußtsein nehmen, daß wir wieder souverän geworden sind. Richard von Weizsäcker hat einmal formuliert, daß die Deutschen von der "Machtversessenheit des Reiches" in die "Machtvergessenheit der alten Bundesrepublik" geraten sind. Es ist nun notwendig, zum Gleichgewicht zu finden.

Wie definieren Sie dieses "Gleichgewicht"?

Bahr: Im Bewußtsein dessen, was wir können, unsere Interessen zu definieren und diese - ebenso wie das jeder andere Staat tut - zu vertreten. Es gilt Normalität zu erreichen. Das ist noch ungewohnt, nicht nur für das eigene Volk, sondern auch für unsere Nachbarn. Kein Wunder also, daß Gerhard Schröder "Gegenwind" bekam, wenn er von "Normalität" sprach. Viele fragten sich, wollen die Deutschen wieder Großdeutsche werden? Dabei war ein vereintes Deutschland noch nie so klein wie heute.

Wo aber sehen Sie nun die Fortschritte hinsichtlich einer Normalisierung?

Bahr: Seit dem Mauerfall und dem Ende der Sowjetunion können wir, nach über einem halben Jahrhundert, erstmals wieder europäische Sicherheit ohne Amerika organisieren. Zum ersten Mal ist das 2003 geschehen, als die Bundesrepublik in der Irak-Frage nicht an die Seite von Washington getreten ist, sondern mit Frankreich die europäische Option gewählt hat. Ich sehe vier Kanzler, die Weichen gestellt haben: Adenauer hat die Westbindung organisiert, Brandt die Öffnung nach Osten bewerkstelligt, Kohl den Instinkt und Mut gehabt, die Chance zur Einheit zu ergreifen, und Schröder die gewonnene Souveränität durch eine europäisch definierte Selbstbestimmung vollzogen.

Diese nachträgliche Deutung als Heilsweg zur deutschen Einheit ist eine hübsche Legende, Sie meinen das aber doch nicht wirklich ernst? Sie selbst kolportieren in Ihrem Buch "Der deutsche Weg" die Warnung Jakob Kaisers vor dem "Separatisten" Adenauer, der Westbindung statt Einheit wollte, und haben in den achtziger Jahren die Kohl-CDU kritisiert, die nur noch in Sonntagsreden von der Einheit gesprochen hat. Und Bundeskanzler Schröder hat wohl eher Angst vor dem wahnwitzigen Irak-Krieg gehabt, als deutsches oder europäisches Selbstbewußtsein demonstrieren zu wollen.

Bahr: Das ist keine Legende, sondern Wirklichkeit, die sich hoffentlich auch künftig fortsetzen wird. Europa liegt uns näher als Amerika.

In "Der deutsche Weg" fragen Sie sich, warum nach der Wiedervereinigung und dem Abzug der Sowjets niemand die Frage nach dem Abzug der US-Truppen aus Deutschland aufgeworfen habe.

Bahr: Im Grunde muß doch jedes besetzte Land froh sein, wenn es seine Besatzer loswird. Auch Deutschland müßte eigentlich, wie Frankreich, innerhalb der Allianz danach streben, unbesetzt zu sein.

Das heißt, Sie würden einen Abzug der Amerikaner befürworten?

Bahr: Nein, denn ich kann keinen Nutzen erkennen, wenn wir unsere Situation, mit der alle zufrieden sind, ändern. Unsere Nachbarn, im Westen wie im Osten, wollten 1990, daß Deutschland durch die Nato kontrolliert bleibt. Schließlich war gerade diese sicherheitspolitische Einbindung der Durchbruch zur Einheit. Was also haben wir mit dieser Truppenpräsenz nicht, was wir ohne sie hätten?

Sie weisen in Ihrem Buch selbst darauf hin, daß Deutschland 2003 durch die Gewährung der Überflugrechte für die US-Streitkräfte an einem Angriffskrieg mitgewirkt hat. Konsequent souverän wäre es also gewesen, den Amerikanern Start und Überflug zu verbieten.

Bahr: Theoretisch haben Sie recht, in der Praxis gebietet die Klugheit, nicht alles zu tun, was man tun könnte.

Also sind wir doch nicht wirklich souverän?

Bahr: Ich hätte es für unverantwortlich gehalten, wenn der Bundeskanzler zusätzlich zur Verweigerung der Gefolgschaft gegen den Irak die Frage der Überflugrechte aufgeworfen hätte. Das wäre gleichbedeutend gewesen mit der Infragestellung der US-Stützpunkte in Deutschland. Das wäre zuviel auf einmal gewesen! Außerdem: Diese Stützpunkte behindern unsere außenpolitische Handlungsfreiheit nicht.

Mag sein, aber der Punkt ist: Wir trauen uns nicht. "Ein bißchen" ist Deutschland also immer noch besetzt?

Bahr: Das tut nicht weh; einige jammern sogar, wenn die US-Truppen abziehen. Ich würde einen Ringkampf mit den Amerikanern für töricht halten.

Die Franzosen haben ihn 1966 ausgefochten, als sie den Abzug aller amerikanischen Truppen durchgesetzt haben.

Bahr: Die haben damit ihre Selbständigkeit bewiesen; diesen Nachweis brauchen wir nicht mehr zu führen.

Warum?

Bahr: Das haben wir doch schon, zum Beispiel mit unserer Irak-Politik.

Sie selbst haben darauf hingewiesen: Man täusche sich nicht, die USA hätten in der alten Bundesrepublik nie mehr als ein "Protektorat" gesehen.

Bahr: Das gilt sicherheitspolitisch immer noch, sogar für ganz Europa. Wir sollten nicht vergessen, daß die Garantie der USA gegen die potentielle Bedrohung des Ostens gewirkt hat. Von den Amerikanern wäre umgekehrt auch eine gewisse Dankbarkeit für diese deutsche Dankbarkeit angebracht. Denn es ist natürlich amerikanisches Interesse, hier einen unsinkbaren Flugzeugträger zu haben.

Ein anderes Thema: 1989/90 befürchteten unsere Nachbarn, Deutschland werde zu einer neuen Hegemonialmacht. Fünfzehn Jahre später erleben wir Deutschland als kranken Mann Europas.

Bahr: Ich bin kein Ökonom und kann daher keine guten Ratschläge zur Bewältigung unserer Krise geben. Es ist aber unbestreitbar, daß ohne den riesigen Finanztransfer in die neuen Länder Deutschland weiterhin an der Spitze in Europa rangieren würde. Allerdings dürfen solche Überlegungen keine Rolle spielen, denn das Grundgesetz, die nationale Solidarität und die geschichtliche Fairneß gebieten es, heute den Landsleuten zu helfen, die - neben den Vertriebenen - den größten Teil der Zeche für den verlorenen Krieg haben zahlen müssen.

Mancher verweist angesichts der Probleme gerne auf die Zeit und die Tugenden der Wideraufbaugeneration nach dem Krieg. Inzwischen erinneren sich sogar Musiker und Filmemacher in Hitparaden-Titeln wie "Wir sind wir" und populären Kinofilmen wie "Das Wunder von Bern" bewundernd dieser Zeit, die von den Achtundsechzigern stets als postfaschistisch denunziert wurde. Allerdings kritisieren viele, darunter sogar die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", diese Anklänge von Normalisierung. Ist die zur Liebe des eigenen Landes offensichtlich unfähige Mittelgeneration nicht vielleicht unser eigentliches Problem auf dem Weg zum "Gleichgewicht"?

Bahr: Vergessen Sie nicht, daß gerade die se Generation in der Verantwortung gelernt und deutsche Soldaten außerhalb des Nato-Gebietes eingesetzt hat. Man kann es als Ironie der Geschichte bezeichnen, daß immerhin pazifistische Kräfte nun sogar bereit sind, Soldaten einzusetzen.

Wären wir denn mit den Tugenden der Wiederaufbaugeneration in der Lage, die heutige Krise zu meistern?

Bahr: Ich möchte zunächst einmal daran erinnern, daß bei allem verständlichen Jammern und Klagen festgestellt werden muß, daß der deutsche Lebensstandard und unsere Wirtschaftskraft in Europa immer noch an der Spitze stehen. Entweder müssen also wir die anderen auf Höhe unserer Standards anheben oder unsere Standards senken, solange die Angleichung innerhalb der Europäischen Union erstrebt wird. Ironischerweise erledigt derzeit die Wirtschaft mit ihrer erpresserischen Haltung, der sich keine Regierung, keine Gewerkschaft und keine Arbeitnehmerschaft dauerhaft erwehren kann, diese Absenkung für uns. Den Opel-Streik in Bochum habe ich als alarmierend empfunden, weil er, wie die FAZ formulierte, ein "Aufstand" war. Ein Aufstand gegen die kalte Haltung, daß der Gewinn mehr zählt als die Menschen. Daß die Menschen degradiert werden zu Mitteln, um den Gewinn rechnen zu können. Gelingt das nicht, werden die Menschen eben "freigesetzt".

Der Schweizer Soziologe und bekannte Globalisierungskritiker Jean Ziegler hat im Interview mit dieser Zeitung darauf hingewiesen, daß es alleine innerhalb des Nationalstaates möglich ist, dieser Logik zugunsten eines sozialen Ausgleiches zu entgehen.

Bahr: Der Nationalstaat ist dazu längst zu schwach, er kann nur noch mildern. In unserem Falle jedenfalls hat das amerikanische Management von General Motors die Regeln des rheinischen Kapitalismus, der auf Konsens abgestellt ist, und der in Westdeutschland tatsächlich als "nationaler" Kompromiß zum sozialen Ausgleich verstanden werden muß, verletzt. Wenn so etwas passiert - darüber muß man sich im klaren sein, zumal vor dem Hintergrund von Hartz IV - dann "wackelt die Wand".

Was meinen Sie damit konkret?

Bahr: Eine Destabilisierung der Bundesrepublik.

In welchem Maße?

Bahr: Das kann ich nicht vorhersagen.

Bis zur politischen Krise, wie manche befürchten?

Bahr: Ich male keine Horrorszenarien. Aber fest steht, der Standortfaktor Nummer eins der Bundesrepublik sind Stabilität und Harmonie durch soziale Sicherheit. Wehe, wer den leichtfertig verspielt.

Konservative warnen, die Bundesrepublik Deutschland würde durch eine Verletzung dieses sozialen Konsens besonders stark destabilisiert werden, weil ihr innerer Ausgleich allein darauf ruht. Während in anderen Ländern das politische System zusätzlich wesentlich durch den Nationalstolz stabilisiert wird.

Bahr: Ich glaube nicht, daß man das im Sinne von Ursache und Wirkung in Verbindung setzen kann. Lassen Sie mich etwas ausholen: Ich glaube, in Deutschland wird man sich bald bewußt werden, was für ein Einschnitt der EU-Verfassungsvertrag ist. Denn dieser Verfassungsvertrag hat dem deutschen Traum von einer europäischen politischen Integration - von der europäischen Föderation - beendet. Fischers Europa-Konzept, das er in seiner Rede an der Berliner Humboldt-Universität im Jahr 2000 dargelegt hat, ist damit doch mindestens für die nächsten ein bis zwei Jahrzehnte auf Eis gelegt! Es gab offensichtlich kein anderes Land, das diese politische Vollintegration wollte. 24 Nationen haben beschlossen, daß Europas Zukunft im Miteinander, aber nicht in der Verschmelzung der Nationalstaaten liegt. Danach hat sich die 25. - also wir - nun mal zu richten. Noch sind wir uns in Deutschland offenbar gar nicht bewußt, daß wir in Europa auf de Gaulles Konzept vom Europa der Vaterländer und damit auf unseren eigenen Nationalstaat zurückgeworfen sind! Wenn wir für diese Zukunft fit sein wollen, dann sind wir gezwungen, zu lernen wieder eine normale Nation zu sein. Das wiederum führt uns zurück zu Ihrer Frage und zeigt, daß wir die Aussöhnung mit unserem nationalen Selbstbewußtsein - trotz unserer schwierigen Geschichte - ebenso wie den Erhalt des sozialen Konsens schaffen müssen, weil wir uns eine Fehlfunktion oder gar die Lahmlegung Deutschlands als Nation nicht leisten können.

Wie sollen wir diese Erfahrung, in Europa mit unseren Vorstellungen alleine zu stehen, deuten? Sind wir mit unserem Wunsch nach Überwindung der Nation besonders modern und nur an der Rückständigkeit der anderen gescheitert, oder haben wir uns offensichtlich als lebensuntüchtige, neurotische Sonderlinge erwiesen?

Bahr: Wir würden uns wirklich lächerlich machen, den anderen 24 zu sagen: "Ihr seid zurückgeblieben!"

Also sind die nationsvergessenen Deutschen die Sonderlinge?

Bahr: Europa verträgt den Satz nicht: "Am deutschen Wesen soll Europa genesen."

Die mit den Römischen Verträgen 1957 gegründete EWG - der Vorläufer der Europäischen Union - sollte das "bedrohliche" Deutschland einbinden. Nun entwickeln die Deutschen gerade in der EU eine Versessenheit, von der sich unsere Partner erneut in gewisser Weise bedroht fühlen.

Bahr: Das ist nicht mehr ernstzunehmen. Nach der totalen Niederlage hatten die Deutschen von Macht und Einfluß genug. Sie waren friedlich geworden und hofften die Last der jüngsten Geschichte in einem übernationalen Europa loswerden zu können. Heute hat Europa ein ganz anderes Problem. Wenn wir nur eine Wirtschaftsgemeinschaft bleiben, werden wir politisch immer durch die USA manipulierbar sein. Wenn wir bei dem beschlossenen Ziel einer politisch selbstbestimmten Gemeinschaft bleiben, muß Europa Streitkräfte aufstellen, die auch selbstbestimmt eingesetzt werden können. Falls das nicht alle EU-Mitglieder wollen, dann sollten diejenigen beginnen, die dazu willens und fähig sind. Der Verfassungsvertrag gestattet das. Ich bedauere sehr, daß 1954 die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) nicht geklappt hat, dann wäre alles wohl sehr zielstrebig auf eine politische Gemeinschaft zugelaufen. Uns bleibt nur übrig, auf eine allmähliche Ausweitung der politischen Handlungsfähigkeit Europas zu setzen, die sich ebenso sukzessive ausbreiten könnte, wie die EWG.

Was schlagen Sie konkret vor, muß sich dafür in unserem Land ändern?

Bahr: Ich kenne keinen Staat, in dem wir als "Europäer" angesprochen werden. Wir werden als "Deutsche" gesehen. Es ist der Nationalstaat, in dem das Zugehörigkeitsgefühl und die Loyalität der Bürger wohnt. Natürlich kann man stolz darauf sein, daß es dank Europa auch einen westlichen Weg in der Irak-Frage gegeben hat, der nicht von Amerika geprägt war. Oder darauf, daß Europa dem sogenannten "Kampf der Kulturen" entgegenwirkt. Ich glaube, wir werden auch auf das von Europa entwickelte Konzept der Zusammenarbeit stolz sein, das im 21. Jahrhundert viel prägender und hilfreicher sein wird, als das Prinzip der Machtentfaltung in Arroganz, wie es die USA praktizieren. Diese beiden Modelle werden in der kommenden Epoche konkurrieren, und es wird sich zeigen, welches sich bewährt. Europa funktioniert aber noch nicht als Objekt unserer Vaterlandsliebe. Die EU teilt sich bislang nicht als ein tiefes Gefühl mit.

Reicht aber dieser Appell an die "nationale Vernunft" aus, wenn wir seit über vierzig Jahren von der Nation "wegerzogen" worden sind?

Bahr: Ich kann da nur eindringlich die Formel Willy Brandts empfehlen: "Stolz ohne Überheblichkeit".

Ihre Generation kann dazu auf ein anerzogenes Nationalgefühl zurückgreifen. Die heute Zwanzig-, Dreißig- oder Vierzigjährigen sind jedoch fast allesamt mit einem gestörten Verhältnis zur Nation und mit einem negativen Deutschlandbild aufgewachsen. Bedarf es also nicht etwas mehr als nur eines guten Ratschlages? Brauchen wir nicht gar eine Art emotionales "Nation-Building" für die Deutschen?

Bahr: Ich glaube wirklich, daß die jungen Leute da umlernen müssen. Oder wollen die im Ernst warten, bis sich eines Tages der Stolz auf Europa einstellt? Oder wollen sie denn etwa gar ohne einen solchen Stolz leben?

Das ist doch die Realität! Fragen Sie nur junge Ausländer in Deutschland, die sich integrieren wollen. Die sagen Ihnen: "In was denn? Ihr Deutschen habt doch nichts Attraktives, in das man sich gerne integrieren möchte!"

Bahr: "Weinend lieb' ich Dich noch", hat einmal ein Dichter über Deutschland geschrieben. Trotz der schrecklichen Geschichte ist es doch mein Land. Was denn sonst? Man kann aus der Geschichte nicht austreten und man sollte nicht in Nihilismus verfallen.

Sie können das frei äußern, "Normalsterbliche" werden dafür aber oft sehr schnell mit Injurieren wie "Nationalist", "Ewiggestriger" oder gar "Nazi" belegt.

Bahr: Es stimmt, daß es in Deutschland solche Vorurteile gibt. Aber es hilft doch nichts, ich kann die Nation nicht unter den Teppich kehren. Wir haben die vergeblichen Versuche der DDR erlebt, der Nation zu entkommen. Die entsprachen dem, was auch vielfach in Westdeutschland passiert ist und auch im wiedervereinten Deutschland immer noch existiert.

Helmut Schmidt berichtete im April in einem Beitrag für die "Zeit" von einem Zusammentreffen mit jungen Offizieren der Bundeswehr: "Ich versuchte es mit Thukydides, ... dann mit dem Namen des Perikles - keiner hatte auf seinem Gymnasium diese Namen gehört. Schließlich fragte ich: 'Was zum Teufel habt Ihr denn im Fach Geschichte auf der Schule gelernt?' Sofort meldeten sich gleichzeitig sieben junge Leute mit der Antwort: 'Auf der Unterstufe Nazi-Zeit, auf der Mittelstufe Nazi-Zeit, dito auf der Oberstufe Nazi-Zeit.' Allgemeine Zustimmung im ganzen Hörsaal!" - Ebenso wie Helmut Schmidt haben Sie einmal politische Verantwortung getragen. Fühlen Sie sich nicht mitverantwortlich für diese Fixierung auf die Zeit des Nationalsozialismus?

Bahr: Vielleicht ist die ältere Generation da zu leise gewesen. Aber Willy Brandt zum Beispiel hat unsere ganze Geschichte angenommen, für die er in einer Rede 1961 "Bebel und Bismarck, Hindenburg und Ebert, Hitler und Ulbricht" nannte. Er hat sogar in Amerika unter Bezug auf den Nationalstolz de Gaulles gefragt: "Warum nur er?" Und sein Wahlkampfaufruf, "Deutsche, Ihr könnt stolz sein auf unser Land!", ist 1972 sogar gehört worden.

Die Fälle Hohmann und Möllemann oder der Wahlerfolg der NPD in Sachsen lassen viele den Schluß ziehen, "das Nationale" müsse in Deutschland wieder stärker gesellschaftlich bekämpft werden.

Bahr: Wenn ich heute sehe, daß sich die NPD auf Traditionen des Nationalsozialismus bezieht, dann habe ich gerade davor keine Angst, denn das ist so phantastisch, daß man sich angesichts des Mangels an Realitätsbezug keine Sorgen machen muß. Die natürliche Weg Hitlers war Autarkie, Aufrüstung und Krieg. Sogar ein "Adolf II." könnte diesen Weg gar nicht mehr gehen, dazu ist die Bundesrepublik zu eingebunden und unser Volk zu friedliebend. Rechtsextreme Parteien gehören zur europäischen Normalität. Damit müssen Demokratien fertig werden. Wir auch.

Wäre dies nicht eher zu leisten, wenn wir statt negativer Mythen - Joschka Fischer nannte Auschwitz gegenüber dem französischen Schriftstellers Bernard-Henri Lévy den "Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland" - positive Mythen wie etwa den 20. Juli 1944 kultivieren würden?

Bahr: Beides sind Fakten unserer Geschichte. Aber die Vergangenheit darf die Zukunft nicht behindern. Der Widerstand des 20. Juli - der von sehr konservativen Menschen getragen wurde, die durch den Nazismus verführt, dann davon bekehrt worden sind und die daraus die Konsequenzen gezogen haben, inklusive der Bereitschaft, ihr Leben dafür einzusetzen - ist in der Tat eine Tradition, auf die wir stolz sein können. Und ich kenne übrigens keine deutsche Zeitung, die die Erinnerung an den 20. Juli so leidenschaftlich engagiert, so ernst und so ausführlich behandelt hat wie die JUNGE FREIHEIT.

Kehren wir zurück zum Thema deutsche Einheit: Ist uns die deutsche Einheit seltsamerweise 1989 nicht in einem Moment in den Schoß gefallen, als die politischen Eliten der Etablierten, vor allem auch der SPD und sogar der CDU, sie bereits aufgegeben hatten, ja teilweise schon selbst als "revisionistisch" verteufelt haben?

Bahr: Das stimmt schon. Aber das war ehrlich, wenn auch falsch.

Ehrlich? Die deutsche Teilung als Weg für Europa zu deklarieren und die Einheit als revisionistisch?

Bahr: Nun ja, Sie können mir nicht alle törichten Thesen vorhalten, die irgendwer irgendwann einmal geäußert hat. Ich habe meine Meinung zur Wiedervereinigung nie geändert. Oskar Lafontaine war ehrlich, als er 1990 sagte, er könne sich nicht über die Einheit freuen. Ich habe unter solchen Aussagen eines SPD-Kanzlerkandidaten aber natürlich gelitten. Ebenso, wie ich den Kopf geschüttelt habe, als Bürgerrechtler sagten, sie wollten gar nicht die Einheit, sondern eine reformierte DDR.

Es gibt allerdings auch von Ihnen Aussagen, wie etwa vom 27. November 1988 beim "Münchner Podium" in den Kammerspielen: Das Reden von der deutschen Einheit sei "Lüge, Heuchelei, die uns und andere vergiftet, politische Umweltverschmutzung".

Bahr: Ich habe mich aufgeregt über das patriotische Gerede von Leuten, die es gar nicht so meinten. Sie haben das Gegenteil von dem getan, was die Franzosen nach 1871 in Hinsicht auf Elsaß-Lothringen praktiziert haben: Nicht davon reden, aber immer daran denken; die haben stets davon geredet, aber längst nicht mehr daran gedacht. Dazu kommt ein taktisches Moment: Wenn Brandt, Schmidt oder Kohl ständig im Ausland über die Wiedervereinigung geredet hätten, dann hätte es keine Möglichkeit gegeben, mit den Herren in Moskau und Ost-Berlin zu verhandeln. Ich kann doch vor diesen Leuten keine Reden führen, die deren Selbstabschaffung beinhaltet hätte. Wir konnten mit den Kommunisten nur dann sprechen, wenn ihre Interessen, also Stabilisierung von DDR und Ostblock, gewahrt blieben.

Sie sind also innerlich nie vom Ziel der Wiedervereinigung abgerückt?

Bahr: Niemals! Durch die "Briefe zur deutschen Einheit", die 1970 in Moskau und 1972 in Ost-Berlin hinterlegt wurden, blieb unser Ziel sogar ausdrücklich gewahrt. Beide Seiten mußten hoffen können, daß ihre Ziele durch die Ostpolitik erreichbar sind: Die einen - übrigens nicht nur im Osten - erwarteten die Verewigung von deutscher und europäischer Teilung, und wir erwarteten einen Prozeß, der zur Einheit führt. Unsere Rechung ist aufgegangen.

Bedurfte es dazu aber wirklich so fragwürdiger Formulierungen wie etwa der Willy Brandts, der 1973 in einem "Newsweek"- Interview zum besten gab: "Es war für mich härter, das Rauchen aufzugeben als die andere Hälfte Deutschlands"?

Bahr: Brandt war der festen Überzeugung, nur das aufgegeben zu haben, was von Hitler schon längst unwiderruflich verspielt war. Und vergessen Sie nicht: 1973 war es selbst für viele Amerikaner eine Horror-Vorstellung, Deutschland könnte mit Hilfe Moskaus seine Einheit erreichen. Brandt hat sich zu seinem Land bekannt. Sein Kniefall hat deutsche Schuld bezeugt. Aber kein Volk kann dauernd knieend leben.

Fotos: SPD-Politiker Bahr, Schmidt, Wischnewski (1984 in Essen): "Deutsche, ihr könnt stolz sein auf unser Land", Bahr, JF-Chefredakteur Dieter Stein in der Berliner SPD-Zentrale

 

Prof. Dr. Egon Bahr, Bundesminister a.D.: Der Berater (ab 1960) und persönliche Freund Willy Brandts war als Bundesminister für besondere Aufgaben (1972 bis 1974) Leiter der Deutschlandpolitik und "Architekt" der neuen Ostpolitik. Geboren 1922 im thüringischen Treffurt, wurde er wegen seiner jüdischen Großmutter als Musikstudent abgelehnt, später - 1944, nach Einsätzen an der Westfront - aus der Wehrmacht ausgeschlossen. Der ehemalige Fahnenjunker lernt Industriekaufmann, bevor er Journalist wird. 1956 tritt er in die SPD ein, deren Bundesgeschäftsführer er von 1976 bis 1981 war. Unter Helmut Schmidt ist er bis 1976 Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ab Mitte der achtziger Jahre profiliert sich Bahr erneut als sicherheitspolitischer Experte, so als Direktor des Instituts für Friedensforschung in Hamburg, als Leiter der sicherheitspolitischen Kommission der SPD oder als Berater des letzten DDR-Verteidigungsministers Eppelmann.

Wichtigste Veröffentlichungen: "Was wird aus den Deutschen?" (Rowohlt, 1982), "Sicherheit für und vor Deutschland" (Siedler, 1990), "Deutsche Interessen" (Blessing, 1998), "Der Nationalstaat - überlebt und unentbehrlich" (Steidl, 1999), "Der deutsche Weg" (Blessing, 2003)

 

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