© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November 2004

Hier begann der Einsturz der Berliner Mauer
Interview: Der ungarische Pater Kozma über seinen Einsatz für DDR-Flüchtlinge 1989 und die 15 Jahre danach / Wiedervereinigung kostbarer "als alle Güter dieser Welt"
Alexander Barti

Pater Kozma, am 14. August wurde aus Anlaß des 15. Jahrestages der Errichtung des Budapester Flüchtlingslagers für ausreisewillige DDR-Bürger hier, im Garten des Malteser Hilfsdienstes im Bezirk Zugliget, ein Denkmal errichtet. Es trägt den Namen "Aufnahme". Das offizielle Deutschland war mit keinem führenden Politiker vertreten. Hat Sie das gekränkt?

Kozma: Nun, zuallererst ist der 14. August unsere Feier. Seit 15 Jahren feiern wir jährlich die Wiederkehr dieses Ereignisses am gleichen Tag. Wir glauben, daß wir damals, als die Flüchtlingswelle hier in Ungarn war, die einzig richtige Lösung gefunden haben, indem wir unsere Tore und vor allem auch unsere Herzen öffneten. Besonders letzteres möchte ich betonen. Wir wollen mit diesen Feiern auch zum Ausdruck geben, daß wir diese Aufgabe damals nicht gesucht haben, aber als Gott sie uns geschickt hatte, mußten wir sie in Verantwortung vor Gott lösen. Hier kommt der christliche Aspekt zum Tragen, denn berufen konnten wir uns nur auf Gott, und nur Er konnte uns damals tatsächlich helfen.

Hatten Sie auch deutsche "Offizielle" eingeladen?

Kozma: Natürlich haben wir auch die Deutschen eingeladen, schließlich haben wir damals ja für sie gehandelt. Jeder warnte uns und sagte, daß im August alle Deutschen im Urlaub sind. Aber 1989 waren die Ereignisse eben auch im August. Diesen "Tag der Aufnahme", der zweifelsohne ein besonderer Tag ist in der europäischen Geschichte, kann man nicht ein oder zwei Monate später begehen. Hier, mit dieser ganz menschlichen Geste begann etwas, was später, nach der Öffnung der Grenzen, zum Einsturz der Berliner Mauer führte. Ja! Ehrlich gesagt hatten wir auch gehofft, daß führende deutsche Politiker ihren Urlaub kurz unterbrechen werden, um hier zu sein. Denn im August 1989 war ja offenbar auch Urlaubszeit, und damals kamen täglich Dutzende hochrangige Politiker hierher. Aber niemand kam zu den Feierlichkeiten. Wir haben das zur Kenntnis genommen und uns etwas gewundert.

Wie war es bei den Feiern in den vorangegangenen Jahren, waren irgendwann deutsche Politiker dabei?

Kozma: Nein, niemals. Und auch mich hat man nie nach Deutschland zu Feierlichkeiten der Grenzöffnung eingeladen. Das ist auch deshalb so merkwürdig, weil jeder die Rolle des Malteser Hilfsdienstes in jenen Tagen anerkennt. Man darf nicht vergessen, daß damals in diesen dramatischen Tagen die meisten Politiker noch zögerten und unsicher waren, wie man mit den Flüchtlingen umgehen sollte. Natürlich gab es sicherlich im Hintergrund viel Bewegung, aber es dürfte sehr beruhigend gewesen sein, daß währenddessen die Menschen gut versorgt wurden.

Erst am 15. September besuchte Bundeskanzler Gerhard Schröder das Denkmal in Zugliget, und am 30. September, schaute Ex-Bundesaußenminister Hans Dietrich Genscher bei Ihnen vorbei. Wie erklären Sie sich diese "Verspätungen" - ist es das schlechte Gewissen?

Kozma: Nein. Bundeskanzler Schröder erklärte bei dem Dinner nach seiner Ankunft, daß er nur aufgrund des 15. Jahrestags der Einrichtung des Flüchtlingslagers hierher gekommen sei. Er hätte den Besuch ja auch mit seiner geplanten Teilnahme an dem Kongreß der Sozialisten Mitte Oktober verbinden können. Anscheinend fand er es wichtig, diesen Besuch nachzuholen. Ich erinnere mich auch, daß ihn das, was damals hier geschehen ist, sehr beeindruckte. Folgendes konnte ich sehen: Als er den Kranz aufnahm, mit dem er das Denkmal verzierte, wurden seine Augen feucht. Von da an sah er die Ereignisse durch diese Tränen, und das konnte man auch merken, als er sich rührend bedankte. Hans Dietrich Genscher, der mir schon damals persönlich gedankt hatte, nachdem die Flüchtlinge draußen waren, kam diesmal ebenfalls, weil er im August keine Zeit hatte. Er wollte damit nochmals eine persönliche Geste machen.

Gehen wir noch mal zurück in das Jahr 1989. Warum wurde gerade Ihre Kirche hier in Zugliget als Flüchtlingslager ausgewählt, man hätte ja auch ein anderes Gebäude nehmen können?

Kozma: 1989 gab es in dem kommunistischen Ungarn keine offiziellen privaten Organisationen. Das Rote Kreuz galt als halbstaatlich. Die ungarischen Malteser agierten aber bereits seit 1987 in halblegaler Form. Frau Csilla von Boeselager hatte die Organisation aus Deutschland mitaufgebaut. Im Februar 1989 wurde sie auch in Ungarn eingetragen. Da den Deutschen der Malteser Hilfsdienst und auch Frau von Boeselager ein Begriff war, wandten sie sich 1989 an uns, als ihre Botschaft in Budapest aus allen Nähten zu platzen drohte. Das Zentrum der Malteser war hier in der Kirche St. Familia, deren Pfarrer ich damals war - so kamen die Flüchtlinge auf dieses Gelände.

Im Westen schätzt man besonders den damaligen Außenminister Gyula Horn, der den Grenzzaun bei Fertörákos (Kroisbach) medienwirksam mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock zertrennte. Wie schätzen Sie die damalige Lage ein: Hatte Ungarn wirklich genügend politischen Spielraum, um diesen Alleingang zu wagen, oder war alles von Moskau aus gesteuert?

Kozma: Bundeskanzler Kohl erzählte mir persönlich, daß Gorbatschow bei den damaligen Verhandlungen gesagt habe, die "Ungarn seien gute Menschen". Das hieß soviel wie: Moskau wird sich nicht einmischen, wenn die Führung in Budapest die Grenze öffnet. Hinzu kommt - das erzählte mir gerade auch Herr Genscher -, daß Horn damals nach Ost-Berlin reiste und den Genossen erklärte, Ungarn werde sich nicht an alle Vereinbarungen des Warschauer Paktes halten, weil es noch einen anderen Vertrag gab - ich weiß nicht, welchen -, wonach man die Flüchtlinge ausreisen lassen konnte.

Demnach kann man davon ausgehen, daß der Impuls zur Grenzöffnung tatsächlich ein ungarischer gewesen ist.

Kozma: Ja, unbedingt. Eine ganz besonders wichtige Rolle spielte dabei der damalige Ministerpräsident Miklós Németh, der damals öfters hier im Flüchtlingslager war und der auch mit Kanzler Kohl über die Flüchtlinge verhandelte. Németh, der ein eher scheuer Mensch ist, verschwand nach der Wende vollkommen in der Versenkung, sein Name ist kaum bekannt, aber ich halte ihn unbedingt für eine Schlüsselfigur der damaligen Ereignisse. Daß er quasi verschwiegen wird, ist eigentlich unerklärlich. Zweimal konnte Ungarn in der Geschichte des 20. Jahrhunderts einen weltpolitischen Impuls geben: einmal durch den Aufstand von 1956, der die Schwäche der Sowjetunion offenbarte, und dann 1989 durch die Öffnung der Grenzen.

In Deutschland scheint es so, als sei die ganze Freude der damaligen Wendezeit verlorengegangen. Sind die Deutschen undankbar?

Kozma: Tja, ich bin schon ein wenig enttäuscht über die Deutschen. Neulich hörte ich von einer Umfrage, die ergab, daß es tatsächlich Deutsche gibt, die am liebsten die Mauer wieder hochziehen würden. Das verbittert mich schon. Das ist unglaublich. Da wird gejammert, wieviel die Vereinigung gekostet hat, wieviel der Westen gezahlt hat, um dem Osten auf die Beine zu helfen. Das verstehe ich nicht, und ich halte diese Diskussion für unwürdig. Es handelt sich doch hier um ein Volk, um eine Nation. Man darf nicht zulassen, daß das nationale Bewußtsein von finanzpolitischen Erwägungen niedergerungen wird. Das ist das eine. Zum anderen: Warum sind die Westdeutschen nicht froh darüber, daß sie genug Geld hatten, um dem Osten auf die Beine zu helfen? Früher klagten die Deutschen immer über die Trennung ihres Volkes - heute haben sie sie endlich überwunden. Ist es wirklich so eine Tragödie, daß das Zusammenwachsen so viel kostet? Wir können nichts mitnehmen aus dem Diesseits. Daß Deutschland wieder vereinigt ist, sollte kostbarer sein als alle Güter dieser Welt.

Kommen noch Flüchtlinge von damals wieder hierher nach Zugliget, um sich den Schauplatz der damaligen Ereignisse noch mal anzuschauen?

Kozma: Nur ganz wenige, praktisch niemand. Das ist auch ein Grund, weshalb ich dieses Denkmal in Auftrag gegeben habe. Es soll uns Ungarn mahnen, aber es soll vor allem auch die Deutschen daran erinnern, was damals hier für sie geschehen ist. Hunderte von Menschen waren hier freiwillig im Einsatz, Hotels und Gaststätten brachten umsonst ihr überschüssiges Essen. Niemand fragte, was das kostet - man konnte erleben, zu welchen großartigen Leistungen die Menschenliebe fähig ist. Hier ist ein Wunder geschehen. Auch daran möchten wir mit dem Denkmal erinnern. Denn wenn die Menschen vergessen, daß es solche großartigen Offenbarungen gibt, verlieren sie auch etwas von ihrer Menschlichkeit. Und wenn die Deutschen damit nichts mehr anfangen können, dann geht es gar nicht so sehr um Undank - ich fürchte dann vielmehr um ihre Zukunft.

Sie sind in einem Alter, in dem andere in Rente gehen. Was haben Sie noch vor, was wollen Sie noch erreichen?

Kozma: Es gibt in Ungarn sehr viele Arme. Ich schätze nach meinen Erfahrungen, daß drei Millionen Menschen arm sind und weitere drei Millionen unter der Armutsgrenze - also noch schlechter - leben. Das sind sechs Millionen Bürger (von zehn Millionen), denen es wirklich schlecht geht. Das ist furchtbar, aber trotzdem ist das nicht unser Hauptproblem. Das brennendste Problem ist die Lage der Roma. Im Rahmen der Malteser haben wir ein Programm entwickelt, dessen Entfaltung ich noch gerne erleben würde.

Der neue Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány sagte in der Zigeunersprache Lovari, Ungarn sei "das Land der Magyaren und Roma". Ist das ein Anzeichen dafür, daß es den Roma tatsächlich besser gehen wird?

Kozma: Ich halte diesen Satz des Ministerpräsidenten für nicht sehr glücklich, denn in Ungarn leben nicht nur Magyaren und Roma, sondern auch Deutsche, Juden, Slowaken etc. Er hätte also eine ganze Liste aufsagen müssen. In der Tat wollte er mit seinem Lovari-Satz darauf hinweisen, daß die Lage der Roma besonders dringlich ist. Alles was bisher geschah zur Verbesserung ihrer Situation, war verfehlt. Wir können ihnen nicht einfach das Geld in die Hand geben, das funktioniert nicht. Man muß sie helfend anweisen.

Das klingt nach einem paternalistischen Konzept.

Kozma: Das mag sein, aber anders geht es nach unseren Erfahrungen nicht. Außerdem ist die Familienstruktur der Roma eine matriarchalische. Wer das nicht berücksichtigt, muß mit seiner Hilfe scheitern. Die Roma muß man besonders unterstützen, man muß sie anders anpacken - mit unseren Programmen haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Ich rede nicht gerne darüber, weil das so großspurig klingt.

Wie werden Sie von der Politik gehört, berücksichtigt?

Kozma: Da wir uns keiner Partei verschrieben haben, kommen wir mit allen Parteien sehr gut aus. Unsere Arbeit wird auch sehr geschätzt. Nur leider werden wir in dem neuen Haushalt der Regierung nicht mehr berücksichtigt, das ist ein Verlust von 200 Millionen Forint (umgerechnet 820.000 Euro). Sollte sich daran nichts ändern, werden wir sehr viele Angebote, zum Beispiel unseren kostenlosen Rollstuhldienst, einstellen müssen. Das wäre furchtbar.

 

Imre Kozma wurde am 4. Juni 1940 in dem westungarischen Dorf Györzámoly geboren. Nach dem Abitur in Raab (Györ) trat er in das Priesterseminar von Esztergom ein. 1963 Priesterweihe, dann bis 1966 Kaplan in Dorog. Obwohl Kozma nicht mit dem kommunistischen System einverstanden waren, bekam er 1966 bis 1968 die Pfarrei St. Familia in Budapest-Zugliget (Szent Család plébánia, Szarvas Gábor utca 52, 1125 Budapest, Tel.: 003 61 / 3 91 40 80). Dann war er bis 1977 bei den Franziskanern. Anschließend konnte er wieder in seine Gemeinde zurückkehren, wo er die folgenden zwanzig Jahre tätig war. Seit 1989 ist er Präsident der Ungarischen Malteser, 1997 trat er in den Orden der Barmherzigen Brüder ein. Kozma erhielt unter anderem das Große Malteserkreuz, das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und das Verdienstkreuz der Ungarischen Republik.

 

Unbürokratische Hilfe

Der große Augenblick im Leben von Pater Imre Kozma kam im Spätsommer 1989. Damals rumorte es schon seit Monaten im "Ostblock". In Mitteldeutschland kursierten Gerüchte, wonach die Magyaren bald die Grenze nach Westen öffnen werden. Im Mai wurden tatsächlich die Grenzbefestigungen abgebaut, und am 28. Juni zerschnitten der österreichische Außenminister Alois Mock (ÖVP) und sein ungarischer Kollege Gyula Horn (MSZMP) bei Fertörákos (Kroisbach) den Eisernen Vorhang.

Etwa 200.000 DDR-Bürger fuhren damals nach Ungarn, 30.000 kamen direkt nach Budapest und flüchteten in die Botschaft der Bundesrepublik. Das Gebäude war in kürzester Zeit überfüllt. Um Abhilfe zu schaffen, rief man den Malteser Hilfsdienst zu Hilfe. Dessen ungarische Sektion agierte bereits seit 1987 illegal in Budapest. Nach der offiziellen Anerkennung dieser Organisation im Februar 1989 wurde Kozma Präsident der Ungarischen Malteser, ihr Hauptsitz befand sich in der Gemeinde St. Familia im Budapester Bezirk Zugliget. Unbürokratisch und schnell richtete Kozma nach dem Hilferuf aus der deutschen Botschaft ein Auffanglager für die Mitteldeutschen ein. Am 15. August 1989 kamen die ersten 1.200 Flüchtlinge in der eilends errichteten "Zeltstadt" an. Innerhalb der nächsten drei Monate wurden dort und in zwei weiteren Lagern 48.600 Menschen beherbergt, weitere 40.000 kamen auf ihrer Durchreise dorthin.

 

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Foto: Zeltlager der Ungarischen Malteser in Budapest-Zugliget (1989): Hunderte von ungarischen Bürgern waren hier freiwillig im Einsatz, Lager im Garten der Kirche St. Familia in Budapest-Zugliget (1989): Warten auf die Grenzöffnung

Foto: Pater Kozma mit Ex-Außenminister Genscher im September 2004 in Budapest


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