© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/04 12. November 2004

Pankraz,
Henning Ritter und der getötete Mandarin

Angenommen, ich brauche im Augenblick viel Geld, und niemand hilft mir aus - darf ich dann wünschen, ein reicher Mandarin im fernen, fernen China, den ich nicht im geringsten kenne, von dem ich aber weiß, daß er mir aus irgendeinem Grund seinen Reichtum vermachen würde, stürbe endlich und ich kriegte die Penunzen? Und was, wenn ich die übernatürliche Fähigkeit besäße, tatsächlich per Gedankenexperiment über riesige Entfernungen hinweg zu töten, einfach indem ich den Tod des Mandarins wünsche - darf ich mir den Tod des fremden Geldsacks trotzdem wünschen? Könnte ich dafür bestraft werden? Müßte ich mich selbst schuldig fühlen?

Das sind so Fragen. Sie waren ein Lieblingsthema in den moralphilosophischen Diskussionen des achtzehnten Jahrhunderts, besonders bei den französischen Sensualisten und Enzyklopädisten, den Condillac, Holbach, Diderot, und bei ihrem Widerpart Rousseau. Jetzt gibt es von Henning Ritter ein hochgelehrtes Büchlein darüber: "Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid" (C. H. Beck Verlag, München 2004). Leider versinkt der Autor buchstäblich in ideengeschichtlichen Darlegungen, so daß die eigentliche Moralfrage, "Darf ich jenen Mandarin töten?", weitgehend unerörtert bleibt.

Immerhin bekommt man einen guten Eindruck davon, wie knifflig die Dinge liegen. Natürlich gibt es das Gebot "Du sollst nicht morden", und natürlich haben wir die "Menschenrechte", die u.a. besagen, daß jeder Mensch auf Erden, gleichgültig wo und unter welchen Umständen er lebt, Nutznießer des Gebotes ist. Aber schon die Art, wie heutzutage, im sogenannten "Medienzeitalter", diese Nutznießung von den Medien und überhaupt von der öffentlichen Rhetorik eingefordert wird, muß einen bedenklich stimmen.

Es waltet, freilich fast nur im "Westen" und speziell in Deutschland, ganz überwiegend das Prinzip der sogenannten "Fernstenliebe". Je weiter jemand von uns entfernt ist, suggerieren die Medien, um so ausführlicher und leidenschaftlicher müssen wir uns um ihn kümmern. Es geht beileibe nicht nur darum, ihn nicht zu töten, weder wirklich noch im Wunschtraum, sondern wir sollen intensivst um das tägliche Wohl und Wehe des uns räumlich Fernsten und Fremdesten besorgt sein, sollen um dieses Besorgtseins willen alles übrige opfern, zuerst und vor allem die Sorge um diejenigen, die uns am nächsten stehen, um die Verwandten und Landsleute und eigenen Kinder. "Die räumlich Fernsten sind die moralisch Nächsten", lautet die Devise.

Jeder merkt sofort - und schon Diderot und Rousseau haben es gemerkt -, daß solche Forderung im Grunde frontal gegen die menschliche Natur geht, gegen unser spontanes Fühlen und Mitleiden, das wie selbstverständlich auf den wirklich Nächsten gerichtet ist. Wir leiden und kümmern uns primär in Hinblick auf die, die täglich um uns sind, mit denen wir das Schicksal teilen und zu denen sich engste Sympathien herausgebildet haben. Das ist keine Sache des Theoretisierens, sondern eine Sache des reinen Gefühls, der "Anteilnahme" im genauen Sinne des Wortes.

Mit zunehmender Entfernung nimmt die gefühlte Anteilnahme am Schicksal der anderen ab, wir müssen, um ihr Schicksal zu erfassen und zu ermessen, auf sekundäre Erfahrungen zurückgreifen, auf Berichte und Referate. Zu Diderots und Rousseaus Zeiten kamen die Berichte noch fast ausschließlich in Form von Sprache herein, und das verlieh den Reaktionen darauf von vornherein etwas Diskursives und Analytisches. Man konnte kühlen Sinnes über "unseren Mandarin in China" diskutieren. Inzwischen haben sich die elektronischen Bildmedien mit ihren gewaltigen Möglichkeiten faktisch vollständig an die Stelle der Sprache gesetzt. Es ist in erster und auch noch in zweiter und dritter Linie das Bild, das uns mit den Schicksalen und Leiden der Fernen und Fremden bekannt macht, wodurch eine gänzlich neuartige mentale Situation entstanden ist.

Die aufgerissenen Augen hungernder Kinder oder vom Bürgerkrieg gefällter und entstellter Kämpfer aus fernen Gefilden starren uns direkt an, appellieren an unser Gefühl statt an unseren Verstand. Daß es dennoch Erfahrungen aus zweiter Hand sind, die uns da affizieren, sehr oft sogar von interessierter Seite bewußt inszenierte und gestellte Bilder, spielt bald keine Rolle mehr. Was man als Fernbild sieht, gilt vorab als wichtiger und folgenschwerer als das, womit man täglich selber zu tun hat und was, genau betrachtet, die eigentliche, die eigene Sache ist, über deren Bedingungen man einigermaßen Bescheid weiß und auf die man Einfluß nehmen kann.

Ein Verhalten, das sich nur noch an "unserem Mandarin in China" orientiert, wird unpräzise und liefert sich zudem zahlreichen Ferninstanzen und Zwischeninstanzen aus, die alle ihr eigenes Süppchen kochen. "Globalisierte" Moral kann es nur als rohen Rahmen geben, dessen formende Bedeutung gar nicht geleugnet werden soll, der jedoch nie und nimmer als auch nur halbwegs genaue Vorlage für ein Regelwerk wahrhaft humanen Zusammenlebens taugt. Jean Jacques Rousseau hat das übrigens, wie wir aus dem Buch von Ritter lernen, schon in den Ur-Diskussionen über den Mandarin gegen Diderot und andere, verbissen "global" denkende Enzyklopädisten ins Feld geführt.

Menschenrechte sind kein fertiger Deckel, der einfach über den Käse, den die Menschen anrichten, von oben gestülpt wird, keine Käseglocke. Wenn die Menschen nicht an ihren eigenen Gerüchen ersticken wollen, dann muß jeder zunächst einmal sorgfältig vor seiner eigenen Tür kehren. Der Kontakt mit den anderen, der sich dabei ergibt, führt zu Beobachtung des Fremden und Fernen, zu Gesprächen und günstigenfalls zu fruchtbarem Austausch. Auch die Bilderflut des Medienzeitalters sollte an dieser natürlichen Ordnung des Lebens nichts ändern.


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