© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/04 19. November 2004

"Rückkehr der nationalen Identität"
Der Historiker George Harinck über die Morde an Van Gogh und Fortuyn, den Islam und das Ende der multikulturellen Gesellschaft
Moritz Schwarz

Herr Professor Harinck, warum hat die Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh die Niederländer weit mehr geschockt als die Ermordung Pim Fortuyns 2002?

Harinck: Im Falle Fortuyns stand stets mehr dessen Person im Vordergrund, während man Van Gogh eher als Repräsentanten für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft begreift.

Tatsächlich handelte es sich aber bei Van Gogh "nur" um eine Privatperson, während die Ermordung Fortuyns, der kurz davorstand, eventuell der nächste Regierungschef zu werden, ein Anschlag auf die demokratische Entscheidung des Volkes, also ein klassischer politischer Mord war.

Harinck: So gesehen hätte die Empörung in der Tat stärker bei Fortuyn aufwallen müssen. Aber der Punkt ist, daß uns der Mord an Theo van Gogh in einem Moment trifft, in dem sich unsere Gesellschaft im Zustand einer grundsätzlichen Verunsicherung befindet. Fortuyn hat auf das Problem hingewiesen, aber jetzt, zwei Jahre später, ist es zum Problem der ganzen Gesellschaft geworden. Daher rührt auch die Welle der Gewalt, die nun durch das Land geht und weniger ein Ausdruck kalter Rache ist als der Angst, Enttäuschung und Verunsicherung über uns selbst. Ich bin überzeugt, wären wir unserer selbst absolut sicher, der Fall Van Gogh hätte Entsetzen, aber nicht diesen Schock ausgelöst.

Was meinen Sie mit "grundsätzlicher Verunsicherung"?

Harinck: Bis in die sechziger Jahre ruhte die niederländische Gesellschaft auf den Säulen Tradition, Nation und Religion. Dann kam es zu einem grundlegenden Wechsel, mit dem Argument, das alte Gesellschaftsmodell ließe den Menschen keine Freiheit, sich selbst zu verwirklichen. Die klassische Unterscheidung zwischen privater Selbstverwirklichung und der gesellschaftlichen Rolle, die jeder zu spielen hat, damit die Gesellschaft funktioniert, wurde zugunsten der Idee aufgehoben, wonach jeder jederzeit und an jedem Ort machen kann, was er will, solange er den anderen nicht schädigt. Aus der pluralen Gesellschaft der Vergangenheit wurde der Pluralismus ohne Rücksicht auf die Notwendigkeiten, die zum Funktionieren einer Gesellschaft unerläßlich sind, extrahiert. Aus dieser Idee des reinen Individual-Pluralismus erwuchs wiederum als nächste Stufe die Idee einer nicht nur pluralistischen, sondern multikulturellen Gesellschaft.

In Deutschland hat die Desavouierung der Traditionen und Institutionen durch den Nationalsozialimus zur völligen Neuorientierung geführt. Dieser Faktor fällt in den Niederlanden aus. Woher kam also dieser radikale Wechsel?

Harinck: Angestoßen wurde der Wandel durch die Forderung der Jugend nach "Veränderung", dem die herrschenden Eliten von Anfang an ohne viel Widerstand nachgaben. Die Hoffnung war, die Veränderung dadurch zumindest kontrollieren zu können. Aber das gelang nicht, weil man mit dem Akzeptieren des Prinzips der Veränderung die eigenen Grundlagen verlassen hatte. Die Eliten empfanden folglich die Veränderungen nicht als bloße Notwendigkeit, sondern selbst als Bereicherung. Die metaphysische Legitimation für jede Art von Politik in den Niederlanden war nicht länger die Tradition, sondern Begriffe wie Veränderung, Wechsel und Fortschritt.

Wenn die Niederlande meinten, ihr altes Selbstverständnis aufgeben zu müssen, weil man sich nicht einmal in der Lage sah, die eigenen Jugend zu integrieren, wie konnte man dann erwarten, die Einwanderer zu integrieren, ohne die gesamten Niederlande aufzugeben?

Harinck: Das Problem ist, daß mit der Erweiterung der pluralistischen zur multikulturellen Gesellschaft auch diese in den Fortschrittsoptimismus einbezogen wurde: So wie die Veränderungen durch die Jugend schließlich an sich als eine Bereicherung aufgefaßt wurden, wurde auch die Einwanderung bald an sich als eine Bereicherung verstanden. Was Einwanderung wirklich bedeutet und welche Folgen und Probleme sie bringt, wurde ignoriert.

Diese nun erkannt zu haben, das meinen Sie mit "grundsätzlicher Verunsicherung"?

Harinck: Ja, aber nicht nur. Auch in anderen Belangen ist Verunsicherung entstanden. Pim Fortuyn hat das Problem grundsätzlich formuliert, als er die Niederlande einmal eine "verwaiste Gesellschaft" nannte. Der Punkt ist, daß sich in der permissiven Gesellschaft - also der Gesellschaft, die scheinbar alles erlaubt - immer weniger Bürger um die gemeinsamen Belange kümmern: Niemand fühlt sich mehr verantwortlich, die Gesellschaft fällt auseinander.

Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?

Harinck: Das beginnt bei der Verwahrlosung der öffentlichen Räume oder der Zunahme von Sozialdelikten wie etwa dem Schwarzfahren bis hin zum Anstieg der Kriminalität und endet bei grundlegenden Fragen über das Selbstverständnis unserer Gesellschaft, wie zum Beispiel der Euthanasie. Die Sterbehilfe in den Niederlanden, die gern als Produkt eines modernen Verantwortungsbewußtseins gegenüber den Ansprüchen des Individuums gefeiert wird, dokumentiert in Wirklichkeit die Verwahrlosung des Verantwortungsgefühls. Die Gesellschaft wird mit den Fragen nach Tod und Sterben nicht mehr belästigt, jeder kann sich wieder seiner individuellen Selbstverwirklichung widmen. Die moralische Herausforderung wurde nicht geschultert, sondern delegiert: Wir haben das Problem auf die Ärzte abgeschoben.

Als "Kultur des Duldens" beschreibt der niederländische Soziologe Paul Scheffer diese Gleichgültigkeit. Andere Kommentatoren haben die Formel geprägt: Diese Toleranz sei eigentlich nur Ignoranz.

Harinck: Das Verständnis von "Toleranz" der permissiven Gesellschaft ist im Grunde samt und sonders intolerant. Weil es jeden, der einen klassisch-moralischen und keinen permissiven Blick auf die Dinge hat, ablehnt und aus dem öffentlichen Diskurs ausschließt.

Betrachten Sie auch den Fortuyn-Mord als Konsequenz der permissiven Gesellschaft?

Harinck: In der Verteidigungsrede des Attentäters, des linksradikalen Tierschützers Volkert van der Graaf, kommt zum Ausdruck, daß dieser Fortuyns 2001 bevorstehenden Wahlsieg als einen Rückfall ins Mittelalter gefürchtet hat. Für Van der Graaf war damit sein Weltbild, der Sinn der Geschichte, der Fortschritt, in Gefahr. Dieser Mythos der permissiven Gesellschaft hat so stark bei Van der Graaf gewirkt, daß er sich berufen fühlte, diese Sinngebung der permissiven Gesellschaft mit allen Mitteln zu schützen.

Die permissive Gesellschaft als eine Art Zivilreligion?

Harinck: So ist es, aber das ist natürlich eine sehr komplexe Angelegenheit. Man kann sagen, zwar sind die wenigsten ihrer Anhänger Eiferer, aber sie wird von Eiferern beziehungsweise von "Hohepriestern" bewacht, und die mittrabende Masse akzeptiert diese quasi-religiöse Konnotierung. Anders ist der mythische Fortschrittsglaube und die dogmatische Political Correctness nicht zu erklären.

In Deutschland betrachtet man die Niederlande als gesellschaftliches Vorbild.

Harinck: Wenn Sie eine wirklich offene Gesellschaft haben wollen, taugt unser Land leider nicht. Die Niederlande sind ein ideologisch dominiertes Land.

Der SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz sagte dieser Tage: "Holland ist überall". Er sieht also die Niederlande und Deutschland beziehungsweise ganz Europa gesellschaftlich eng verbunden.

Harinck: Dann ist Europa auf einem schlechten Weg. Daß wir tatsächlich auch in Europa ein Ideologieproblem haben, zeigt allerdings der Fall Buttiglione: Eine permissiv orientierte Mehrheit im Europäischen Parlament hat nicht akzeptiert, daß ein EU-Kommissar privat andere Werte hat als die, die öffentlich gelten sollen. Ein Fall von klassischer Intoleranz, wenn man Toleranz nicht permissiv, sondern im Sinne der Aufklärung versteht.

Nun hat es diese permissive Gesellschaft mit dem Islam zu tun.

Harinck: Das ist ein Problem, denn beide hegen einen gewissen Absolutheitsanspruch. Und man kann sagen, daß sowohl die Moslems in unserem Land nicht niederländisch genug sind, als auch, daß wir nicht moslemisch genug für die multikulturelle Gesellschaft sind.

Was meinen Sie?

Harinck: Wenn wir wirklich eine multikulturelle Gesellschaft sein wollen, können wir es nicht damit bewenden lassen, daß die Moslems unsere Verfassung und Gesetze akzeptieren. Wir müssen dann auch ihre Vorstellungen vom Vorrang Gottes vor den Errungenschaften der Aufklärung anerkennen. Wir müssen verstehen, daß diese Leute Gott als über der Demokratie stehend betrachten. Wir müssen ihre Vorstellung von der Rolle der Frau - inklusive Kopftuch - und ebenso ihr Verständnis von Familie oder ihren speziellen persönlichen Ehrenkodex akzeptieren.

Und wenn nicht?

Harinck: Wenn wir dazu nicht bereit sind, dann sollten wir aufhören, von der multikulturellen Gesellschaft zu sprechen, denn dann wollen wir diese offensichtlich nicht. Ich frage mich aber immer, wie wir dann diesen Konflikt friedlich bestehen wollen - da wir nun einmal so viele Moslems im Land haben. Immerhin ist zum Beispiel in Amsterdam Mohammed inzwischen der häufigste Taufname.

Sie haben anfangs darauf hingewiesen, daß die Niederländer Theo van Gogh als Repräsentanten für die Werte ihrer Gesellschaft betrachten. Van Gogh allerdings hat keinerlei Anstalten gemacht, mit dem Islam zu einer Kompromißlösung kommen zu wollen.

Harinck: Es ist schon bizarr, daß er gerade im Namen der "Toleranz" der permissiven Gesellschaft den Moslems als Moslems keinen Platz in den Niederlanden einräumen wollte. Die Gesellschaft, für die Van Gogh eintrat, war keine multikulturelle, sondern eine monokulturelle Geselleschaft - mit der Monokultur der Permissivität.

Also ist Van Gogh nicht der Märtyrer der Meinungsfreiheit, als der er jetzt dargestellt wird?

Harinck: Ganz und gar nicht. Schon deshalb nicht, weil auch die abendländische Meinungsfreiheit Grenzen kennt. Kritik an der Religion ist unbedingt erlaubt, blindwütiges Beleidigen aber unbedingt verboten. Van Gogh hat die Meinungsfreiheit mißbraucht. Er hat die Moslems gern pauschal als "Ziegenficker" bezeichnet - das ist wohl kaum ein kritischer, sondern ein ganz und gar beleidigender Begriff. Dafür hat er natürlich nicht den Tod verdient, aber stellen Sie sich nur einmal vor, man würde in Europa so zum Beispiel über Juden sprechen! Van Gogh hatte dem Islam auf seine Weise regelrecht den Krieg erklärt, und er wußte, daß er eine Kultur, der die Ehre oft mehr wert ist als das eigene Leben, mit einer Beleidigung Gottes schlimmer treffen konnte, als ein Moslem auf gleiche Weise je einen aufgeklärten Christen treffen kann.

Haben wir im Westen vielleicht vergessen, was das eigentliche Wesen von Religion ist?

Harinck: Ich glaube, einigen dämmert langsam, daß Religion den absoluten Primat Gottes bedeutet und daß diese Vorstellung im Islam - anders als im Christentum, wo sie durch die Aufklärung eine fundamentale Brechung erfahren hat - vorherrschend ist. Viele meiner Landsleute sind darüber zutiefst erschreckt, denn das bedeutet, daß sie sich nicht mehr auf ihre eigenen kulturellen Erfahrungen verlassen können. Aber das ist der Alltag in der künftigen multikulturellen Gesellschaft. Es ist natürlich eine Ironie der Geschichte, daß die Masseneinwanderung, die erst als Nebenprodukt der permissiven Gesellschaft entstanden ist, nun diese bedroht. Und ebenso ist es eine Ironie der Geschichte, daß sich die niederländische Gesellschaft, die im Zuge ihrer Entwicklung hin zur permissiven Gesellschaft die nationale Identität überwinden wollte, diese nun wieder zu entdecken beginnt. Und zwar gerade von den Protagonisten dieser Permissivität!

Inwiefern?

Harinck: Zum Beispiel war ausgerechnet der "linksliberale" Theo van Gogh ein großer Bewunderer der "Nationalisten" Fortyns. Diesen Leuten dämmert nun, daß wir uns wieder unserer eigenen Identität versichern müssen, wenn wir gegenüber dem Islam bestehen wollen. Niemand kann sich in eine leblose Verfassung und Gesetze integrieren. Denn ohne Werte ist ein solches Regelwerk nichts. Werte lassen sich aber nur aus einer Identität heraus begründen und vermitteln, ohne Identität sind Werte nichts. Und der Islam vermittelt den Moslems eine sehr starke Identität. Daß dieser Prozeß einer Besinnung auf die nationale Identität zumindest in den Niederlanden im Gange ist, zeigen viele kleine Anzeichen. Zum Beispiel, daß die Niederländer bei der inzwischen offenbar in allen europäischen "Fernsehnationen" obligaten Wahl des "größten Niederländers, Deutschen, Briten etc. aller Zeiten" nicht etwa den Aufklärer Erasmus von Rotterdam auf den ersten Platz gewählt haben - sondern Pim Fortuyn.

 

Prof. Dr. George Harinck ist Mitglied des Stiftungsrates der konservativen Edmund-Burke-Stiftung in Den Haag. Der Historiker leitet das Dokumentationszentrum für die Geschichte des niederländischen Protestantismus an der Freien Universität von Amsterdam und hat zahlreiche Bücher zum Thema veröffentlicht. Außerdem lehrt er an der Theologischen Universität von Kampen. Geboren wurde Harinck 1958 in Rotterdam.

 

Foto: Protestierende Niederländer am Tag der Ermordung Theo van Goghs in Amsterdam: "(Wir haben) die Moslems als Moslems zu akzeptieren, oder wir sollten aufhören, von der multikulturellen Gesellschaft zu sprechen ... Den Leuten dämmert nun, daß wir uns wieder unserer eigenen nationalen Identität versichern müssen."

 

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