© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/04 19. November 2004

Das einfache Volk auf die Knie gezwungen
Ukraine: Vor der Stichwahl liegt Oppositionskandidat Juschtschenko knapp in Führung / Premier Janukowitsch setzt auf Putin
Ales Sumotny

In den USA wird immer noch ausgezählt - doch der Sieger steht längst fest. In der Ukraine vermeldete die Zentrale Wahlkommission zehn Tage nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen vom 31. Oktober hingegen ein überraschendes offizielles Endergebnis: Der westlich orientierte Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko liegt mit 39,87 Prozent der Stimmen 0,5 Prozentpunkte vor Premier Viktor Janukowitsch. Nach der Wahl hatten Hochrechnungen und Teilergebnisse noch den für eine engere Zusammenarbeit mit Rußland stehenden Janukowitsch in Führung gesehen (JF 46/04). Nächsten Sonntag kommt es zur Stichwahl.

Juschtschenkos Oppositionsbündnis Nascha Ukraina bezweifelt trotz des Vorsprungs das Ergebnis: Ihr Kandidat habe bereits in der ersten Wahlrunde die absolute Mehrheit der Stimmen errungen. Juschtschenkos Sieg sei lediglich durch die "Adminressourcen" verhindert worden. Mit diesem Euphemismus wurde in dem - auch laut OSZE-Beobachtern - schmutzigen Wahlkampf das gesamte Einschüchterungspotential von Polizei, Innenministerium und Sicherheitsdienste sowie die manipulierten Medien bezeichnet, die für den Sieg des Regierungskandidaten Janukowitsch mobilisiert wurden. So soll beispielsweise durch manipulierte Wählerlisten mit "toten Seelen" das Abschneiden von Premier Janukowitsch "verbessert" worden sein.

Deshalb veranstaltete Nascha Ukraina am 6. November eine Kundgebung unter dem Motto: "Unser Volk läßt sich nicht betrügen!" Etwa 60.000 Menschen versammelten sich auf dem Kiewer Platz der Unabhängigkeit, um dem Auftritt Juschtschenkos, seiner Mitstreiterin Julia Timoschenko (ehemalige Vizeregierungschefin unter dem scheidenden Präsidenten Leonid Kutschma) und des Wahlkampfleiters Alexander Sintschenko beizuwohnen. Das Orange, die Farbe von Nascha Ukraina, prägte an diesem Samstag das Kiewer Stadtbild. Wohl animiert vom US-Wahlkampf, trugen Juschtschenko-Anhänger an den Köpfen oder an den Armen orangefarbene Tücher sowie orangefarbene Fähnchen mit der Aufschrift "Tak!" (sprich: "Ja für Juschtschenko!").

"Unser Land braucht radikale Veränderungen. Die kommende Stichwahl kann für die Ukraine größere Umwälzungen mit sich bringen als nach dem Zerfall der Sowjetunion. Auf dem Gebiet der Menschenrechte und Bürgerfreiheiten befindet sich unser Land derzeit auf demselben Stand wie während des Sozialismus! Ein neuer Präsident, Viktor Juschtschenko, wird das alles ändern. Er wird uns Europa und der zivilisierten Welt näherbringen!" warb der Künstler Jurij Domenko auf der Kundgebung.

Doch nicht die Rede Juschtschenkos war dann das Ereignis des Tages, sondern der Auftritt von Sozialistenchef Alexander Moros. Der Ex-Parlamentspräsident hatte in der ersten Wahlrunde den "neoliberalen" Juschtschenko noch heftig von links attkiert. Moros war dann aber in dem polarisierten Wahlkampf mit nicht einmal sechs Prozent nur Dritter geworden. Der als Saubermann und Erzfeind Kutschmas geltende Moros will nun sein Anhänger auffordern, das "kleinere Übel" unterstützen - um so Kutschmas "Ziehsohn" Janukowitsch zu verhindern.

Kommunistenchef Pjotr Simonenko, der mit fünf Prozent Viertbester der 24 Kandidaten war, rief hingegen seine Anhänger auf, keinen der beiden Vertreter des "kapitalistischen Oligarchenklans" zu wählen. Sowohl der amtierende Premier wie der Oppositionskandidat verträten ausnahmslos die Interessen des Großkapitals und nicht die des einfachen Volkes, das in den letzten 13 Jahren der Unabhängigkeit des Landes "auf die Knie gezwungen wurde", erklärte Simonenko am 7. November, als seine KP den 87. Jahrestag der "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" auf dem Kiewer Europaplatz feierte. Zugleich erinnerte er seine Anhänger daran, unter welch menschenunwürdigen Bedingungen die einfachen Bürger der einst "weltweit führenden Nation und Siegerin des letzten Weltkriegs" momentan lebten.

Tatsächlich sieht die wirtschaftliche und soziale Lage der Ukraine düsterer als in Rußland aus. Premier Janukowitsch wirbt zwar mit einem Wirtschaftswachstum von über 13 Prozent, welches die Ukraine während seiner Regierungszeit erreicht haben soll, doch Fachleute wissen: Dieses Wachstum wird in erster Linie durch günstige Außenwirtschaftsumstände bestimmt - vor allem durch gestiegene Preise für ukrainische Exportwaren wie Produkte der Kohle- und Schwerindustrie.

Sozialisten plädieren für das kleinere Übel

In der zehnjährigen Amtszeit Kutschmas stieg das Realeinkommen der Bürger im Schnitt nur um 1,8 Prozent - der Rest des Wachstums wurde unter den drei großen Oligarchenklans aufgeteilt, die nicht nur das ukrainische Wirtschaftsleben, sondern auch das Parlament und die Präsidialadministration "steuern".

Die Erhöhung von Renten und Gehältern, die Janukowitsch im Zuge der Wahlkampagne durchführte, dürfte zudem für die Staatskassen eine enorme Belastung verursacht haben. Kurz vor der Wahl kam es in der Ukraine zu gravierenden Erhöhungen der Preise für Grundnahrungsmittel sowie zur Knappheit der Devisenvorräte.

Die Opposition geht davon aus, daß nach der Stichwahl ein katastrophaler Absturz der Nationalwährung Griwnja und eine enorm hohe Inflationsrate von über zehn Prozent sowie eine tiefe Wirtschaftskrise auf das Land zukommen. Allein die Außenverschuldung der Ukraine erhöhte sich im letzten halben Jahr um 7,4 Prozent und beträgt momentan 5,6 Milliarden Dollar.

Doch bis zur Wahl setzt die Regierung Janukowitsch alles daran, die Lage stabil zu halten. Dafür bedient sie sich alter Sowjetmethoden wie staatlicher Preisregulierung und Lizensierung bei wichtigen Exportgütern. Im Gegensatz zu seiner Wählerschaft besteht Janukowitschs Wahlkampfstab keineswegs aus alten "Sowjetnostalgikern", sondern aus hochqualifizierten und pragmatisch denkenden Experten wie dem Chef der ukrainischen Nationalbank, Sergej Tigipko. Auch der Präsident der ukrainischen Akademie der Wissenschaften, Boris Paton, und Kutschmas ehemaliger Redenschreiber Gennadij Korsch engagieren sich für Janukowitsch.

Ob Rußlands unverhohlene Unterstützung dem Premier helfen wird, ist unklar. Der erneute Besuch von Wladimir Putin eine Woche vor der zweiten Wahlrunde wird als Signal an die etwa zwölf Millionen Russen interpretiert, die Staatsbürger der Ukraine sind. Putin flog letzten Freitag vom Schwarzmeerkurort Anapa zum Hafen Kawkas am Asowschen Meer, um sich mit Kutschma zu treffen. Offizieller Anlaß war die Wiederinbetriebnahme einer Eisenbahnfähre zwischen der russischen Halbinsel Taman und der Krim.

Der Kreml verspricht zudem den etwa fünf Millionen ukrainischen Bürgern, die in Rußland arbeiten (und das Kiewer Parlament mitwählen dürfen), eine Art Doppelstaatsbürgerschaft - wenn Janukowitsch siegt. In der Westukraine, wo viele von der EU träumen, dürfte die Putin-Initiative den gegenteiligen Effekt haben.

Aktuelle Umfragen der Stiftung Demokratitscheskije initiativy, des Rosumkow-Zentrums und des soziologischen Dienstes "Sozis" sehen Juschtschenko am 21. November mit 46 vor Janukowitsch mit 40 Prozent. Knapp acht Prozent hätten sich bisher für keinen der beiden Kandidaten festgelegt, etwa vier Prozent der Wähler würden gegen die beiden stimmen. Wie die "Adminressourcen" wirken oder die KP-Wähler sich entscheiden, weiß jedoch niemand.

Foto: Demonstration für KP-Chef Simonenko in Kiew: Fünf Prozent stimmten für den Sowjetnostalgiker - wer kann nun auf sie zählen?


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