© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/04 19. November 2004

Als Skelette zu hopsen anfingen
Von den Basler Meistern und Bernt Notke zu Hans Holbein: Der Totentanz und seine Maler
Günter Zehm

Wann war es, daß der Tod tanzen lernte? Das passierte ziemlich spät, nämlich erst im höheren Mittelalter, im vierzehnten Jahrhundert, zur Zeit der großen Pest, als gut ein Drittel aller Europäer von der furchtbaren Epidemie dahingerafft wurde. Da erschienen plötzlich, wie auf Verabredung, zuerst in Spanien, kurz darauf auch in Frankreich, Deutschland, Italien, in den Kreuzgängen der Kirchen und an Friedhofsmauern jene grotesken, grellen Malereien, wo der Tod nicht etwa als unerbittlicher Schnitter, nicht mit der Sense in der Hand auftritt, sondern als Lautenschläger und Tänzer, als Gerippe, das grinsend zur danse macabre aufspielt und schon einmal selber die Knochen in klappernde rhythmische Bewegung setzt. Totentanz.

Nie vorher hatte es so etwas gegeben. In den Darstellungen der Alten war der Tod keineswegs ein Gerippe, und er lud auch nicht zum Tanz. Vielmehr zeigte er sich als vollplastischer Gott, als schöner nackter Jüngling mit der gelöschten Fackel, die er in Melancholie, aber auch in Gelassenheit, dem Leichnam umgekehrt auf die Brust stellte. Die antiken Totenzeremonien gerieten zwar manchmal, wie heute bei der Grablegung eines palästinensischen Intifada-Opfers, ekstatisch, die Klageweiber heulten vernehmlich, doch nie mischte sich der Tod selbst dazwischen, in welcher Gestalt auch immer. Erst auf den nach der Zeremonie gemeißelten Grabreliefs und als Friedhofsplastik ließ er sich sehen.

Die frühchristliche Ikonographie zeigte sich überhaupt abgeneigt, den Tod zu verbildlichen. Es gab lediglich Symbole für ihn, das dunkle Tor, die Taube, die niedergebrannte Kerze. Kreuzfahrer brachten aus dem Orient die dort gängige Legende von den drei Edelmännern mit, die, fröhlich von einer Jagd heimkehrend, mitten in der Wüste auf drei Särge stoßen, in denen Skelette liegen. Diese richten sich auf und sprechen: "Was ihr seid, waren wir; was wir sind, werdet ihr sein." Das machte großen Eindruck im Abendland und führte zu den ersten Skelettdarstellungen.

Aber noch waren es die Toten, die sprachen, nicht der Tod selbst. Auf den meisten Abbildungen sieht man die Skelette ohnehin brav in ihrem Sarg liegen, und es ist der ägyptische Wüstenheilige Makarios, der das Wort hat und den erschrockenen jungen Jägern mit streng erhobenem Zeigefinger die Bedeutung des Fundes erklärt und sie daran gemahnt, daß auch sie einst sterben müssen. Es war ein klassisches "Memento mori", ein "Erinnere dich des Todes", wie es auf vielen frühen Votivtafeln erschien, so am schönsten vielleicht auf den von Francesco Traini geschaffenen am Dom von Pisa, die leider im Zweiten Weltkrieg durch alliierte Bombenangriffe zerstört wurden.

Die aufgekratzt-höllenfröhlichen Totentanzbilder des vierzehnten Jahrhunderts waren das genaue Gegenteil zu derlei Memento mori. Was man dort sieht, markiert einen Umschwung von geradezu apokalyptischer Heftigkeit. Der Tod ist nun kein ernster Gott mehr, auch kein bloßes Symbol, kein finsteres Tor, das man bänglich, wenn auch auf Erlösung hoffend, durchschreiten muß. Sondern er ist ein hopsendes, alle Gebeine durcheinanderschüttelndes Hautskelett und dazu ein strizzihafter Bruder Leichtfuß, eine höhnisch-hämische Unterhaltungskanone, die die Menschen ohne Unterschied der Person und des Standes in wildeste Besinnungslosigkeit hineinzieht. Man muß nicht extra an ihn erinnern, denn er ist allgegenwärtig, auch für die kecken Jungen, und zwar nicht nur auf den Schlachtfeldern der vielen Kriege, sondern auch und gerade mitten im Frieden, bei den Tänzen und Liebesküssen am Feierabend.

Je ursprünglicher die Totentanzbilder, um so höhnischer, wüster, zappliger, wie ein Vergleich des frühen Großen Basler oder des ebenfalls frühen, wahrscheinlich von Bernt Notke geschaffenen Lübecker Totentanzes mit den späteren "Bildern des Todes" von Hans Holbein (1538) zutage fördert. Bei Holbein Sittengemälde mit sanft pädagogischem Zeigefinger, in Basel und Lübeck, was den Blick auf die Ständeordnung der Zeit betrifft, exzessive Schadenfreude: Der Tod zeigt, daß er vor keiner irdischen Berühmtheit haltmacht und daß es ihm ausgesprochene Genugtuung bereitet, nicht nur den kleinen Mann, sondern auch die Grafen und Stiftsdamen und feisten Gastwirte, ja sogar den Papst zum finalen Tänzchen zu bitten.

Es ist kein "Memento mori", vielmehr ein kreischendes "Ich bin schon da", "Ich bin immer da" und "Vor mir sind alle Menschen gleich". Natürlich war es die Pest, die diesen Perspektivwandel auslöste. Sie fällte jung und alt, hoch und niedrig, reich und arm, lumpig und edelgesinnt. Sie war der schrecklichste Gleichmacher, den es je gegeben hatte. Ihre Allpräsenz und Unbekämpfbarkeit machte jedes anständige Leben unmöglich, verhängte den permanenten Ausnahmezustand. Sämtliche Tröstungen der Kirche liefen ins Leere.

Hatte man die Mittel und die Unabhängigkeit dazu, so floh man aus den befallenen Gegenden, fand sich - wie in Boccaccios "Decamerone" - auf entfernten Landgütern zu Fluchtgemeinschaften zusammen, die freilich alles andere als sicher waren. Das Verhängnis konnte jederzeit zuschlagen, und man wußte darum und richtete sich mental darauf ein.

Man erkannte, daß die einzige Möglichkeit, vor der Pest das Gesicht zu bewahren und nicht in hirnlose Resignation zu verfallen, der Galgenhumor war. Bei Boccaccio und seinesgleichen sublimierte sich das zum tapferen semantischen Zynismus, zu einem Tanz der Wörter und Witze und deftigen Erzählungen über dem Abgrund des Todes. Bei schlichteren Gemütern, die mehr in Körperbewegungen und Bildern lebten, enthemmte es sich zum Totentanz. Es soll ja, berichten etliche Chronisten, bevor die Künstler ihre Totentänze an die Kirchen- und Friedhofsmauern malten, höchst reale Tänze in den Kirchen und auf den Friedhöfen gegeben haben, anstelle der Gottesdienste, die keinen Sinn mehr zu haben schienen.

Die Leute gingen nicht mehr in die Kirche hinein, sondern gleich auf den umgebenden Friedhof, nicht um an festgelegten Liturgien teilzunehmen und den Worten des Pfarrers zu lauschen, sondern um zu tanzen, um vor sich hinzutanzen wie die Derwische, von einfachsten Klängen begleitet, die man kaum Musik nennen kann. Man tanzte und tanzte (wahrscheinlich, wenn das Bier oder der Wein dazu da waren, alkoholbeflügelt), bis man nicht mehr wußte, was hinten und vorne war, und direkt ins Grab torkelte, ob nun von der Pest befallen oder nicht.

Die Totentanzmaler, Bernt Notke oder die Meister in Basel, mußten an sich nur abbilden, was sie auf den Friedhöfen sahen. Einzig den Gevatter Tod höchstpersönlich haben sie dazugetan, den Künstlerkollegen von der fiedelnden, Knochen werfenden Zunft. Er war ihrer aller Meister.

Bild: B. Notke, "Totentanz" (um 1463/66): "Eine Unterhaltungskanone, die Menschen ohne Ansehen der Person in wildeste Besinnungslosigkeit zieht"


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