© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/04 19. November 2004

Die Republik des Zahlens
Die Zeit nach dem "Schwarzen Freitag" brachte die ohnehin fragile wirtschaftliche Situation der Weimarer Republik zum Zusammenbruch
Stefan Scheil

Unter den Fragen der Zeitgeschichte zählt die nach dem Zeitpunkt des Endes der Weimarer Republik zu den besonders beliebten. Viele Termine stehen zur Auswahl. Versetzte die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 der Republik den Todesstoß oder vielleicht doch schon die Installation der Präsidialkabinette von 1930? Der Schlag gegen die sozialdemokratische Regierung in Preußen von 1932 wird oft genannt, auch das Ermächtigungsgesetz nach dem Regierungsantritt Hitlers, mit dem eine Phase von einigen Monaten beendet wurde, in der erstmals seit längerem wieder eine deutsche Regierung existierte, die sich auf parlamentarische Mehrheiten stützen konnte. Für all das lassen sich historisch-politische Begründungen finden, und über all dem steht die simple Tatsache, daß es die Weimarer Republik vom verfassungsrechtlichen Standpunkt gesehen auch 1945 noch gab. Nun jährt sich dieser Tage der Börsenkrach von 1929, mit dem die demokratische Ordnung damals ins Rutschen geriet. Damit rückt ein Zwang ins Blickfeld, von dem die Weimarer Republik Zeit ihrer Existenz belastet war: eine Republik des Zahlens zu sein.

Stresemann orientierte sich an den USA als Partner

Doppelt belastet durch die Schulden gegenüber der deutschen Industrie und dem eigenen Volk sowie die von den alliierten Siegermächten auferlegten Reparationszahlungen, hatte sich die Republik finanziell niemals wirklich stabilisieren können. Zwar war wenigstens die lange Serie der Volksabstimmungen, Völkerbundentscheidungen und kriegerischen Auseinandersetzungen über territoriale Angelegenheiten 1923/24 zunächst zu Ende gegangen. Dennoch blieb das Versailler Vertragssystem hinfällig. Frankreich demonstrierte dies, als es sich mit dem Versuch, angeblich ausstehende Reparationszahlungen Deutschlands durch die Besetzung des Ruhrgebiets einzutreiben, hoffnungslos festgefahren hatte. Danach demonstrierten die USA politische Präsenz auf dem europäischen Kontinent, was zunächst beinahe allgemein begrüßt wurde. Der Dawes-Plan von 1924 brachte Ordnung in die deutschen Reparationszahlungen, legte zum ersten Mal deren Höhe fest und etablierte endgültig das Finanzkarussell der zwanziger Jahre. Da alle europäischen Mächte bei den Vereinigten Staaten in der Kreide standen, flossen die deutschen Zahlungen letztlich in die USA, von wo das Geld prompt zurück nach Europa verliehen wurde - vorwiegend nach Deutschland - und so die weitere Zahlungsfähigkeit des Kontinents sicherstellte.

Dieses Modell blieb nicht ohne Folgen für das Politikverständnis in Deutschland. Im Schatten der geliehenen Prosperität nach 1924 wurde über Wege zur Revision der Versailler Regelungen nachgedacht und an Methoden künftiger deutscher Politik gearbeitet, die sich durchaus an den USA orientierten. Gustav Stresemann sah in den Vereinigten Staaten die eigentliche Weltmacht und damit den maßgebenden Partner für Deutschland.

In Zusammenarbeit mit den USA konnte sich seiner Meinung nach die Wirtschaftskraft Deutschlands am besten entwickeln, von deren Entwicklung der Einfluß des Reichs abhing: "Die Grundlage für den Wiederaufstieg sollten nicht militärische Mittel, sondern viel mehr das Gewicht der Wirtschaftsmacht bilden. Mit Hilfe des deutschen Wirtschaftspotentials, der wirtschaftlichen Größe des Deutschen Reiches sollte eine dementsprechende Stellung erlangt werden."

Agitation gegen Versailles als ständige Wiederholung

Stresemann dachte an ein machtpolitisches Vorgehen auf liberal-kapitalistischer Basis, dem er gelegentlich allerdings auch durch kleinere Militäraktionen nachhelfen wollte. Eine Taktik also, deren Geistesverwandtschaft mit dem Dollar-Imperialismus der USA offensichtlich war und deren Folge eine gewisse deutsche Hegemonie in Europa gewesen wäre, die nicht auf Zerschlagung oder Eroberung osteuropäischer Staaten beruhte. Und auch auf anderen Ebenen war er gern bereit, von den USA zu lernen. Man müsse die Revision von Versailles öffentlichkeitswirksam vorbereiten, "so wie der Amerikaner in seiner Propaganda eine Tatsache in das Hirn der Öffentlichkeit dadurch hineinwirft, daß er sie immer wiederholt", erklärte er 1923 vor dem Reichstag.

Diese Zeiten waren 1929 auf einen Schlag vorbei. Stresemann selbst blieb es erspart, den New Yorker Börsenkrach noch mitzuerleben. Er starb wenige Wochen vorher. Der Kursverfall machte jedoch die politischen Steuerungsmechanismen der liberalen Wirtschaften unwirksam und räumte in Deutschland unter anderem deswegen einem Politiker neue Aufstiegschancen ein, der Stresemanns Rat, sich in seiner Agitation gegen Versailles immer zu wiederholen, erfolgreich befolgte. Daß zeitgleich zum ersten Mal nach dem Weltkrieg wieder Truppen zur Verteidigung wirtschaftlicher Interessen in ein fremdes Land einmarschierten, rundete das Bild einer Zeitenwende ab. Es waren sowjetische Verbände, die das imperialistische Vorkriegsrennen in Nordchina wieder in Gang setzten, wo sie alte Sonderrechte des Zarenreichs wieder durchsetzten.

In dieser Atmosphäre versuchten sich die Nachfolger Stresemanns vom Makel des Schuldners zu lösen. In einer Zeit, in der Millionen Arbeitslose hungerten und keine fremden Kredite an Deutschland das Zahlungskarussell am Laufen hielten, paßten die fortgesetzten Überweisungen ins Ausland offensichtlich weder in die innen- noch in die außenpolitische Landschaft. Die Weimarer Republik auf diesem Weg retten zu wollen, klappte jedoch nur unvollständig. Als es 1932 ein allgemeines Aussetzen der gegenseitigen Zahlungen unter Staaten gab, konnte dies weder als einseitiges Zugeständnis an Deutschland gewertet werden noch als endgültige Lösung. Einige Wochen nach dem Machtantritt stand Hitler immer noch vor der Frage, weitere Auslandsforderungen zu bedienen. Er lehnte schlicht ab und tat sich noch ein Jahrzehnt später in den Tischgesprächen auf diesen Entschluß viel zugute, den er für einen entscheidenden hielt und der in der Tat das Ende einer Ära bedeutete. Deutschland zahlte nicht mehr. Es waren neue Gesichter an der Macht, wie Golo Mann später schreiben sollte: Keine schönen, aber neue.

Foto: Arbeitslose schauen Straßenbauern zu, Hannover 1930: Zahlungen ins Ausland paßten weder in die innen- noch in die außenpolitische Landschaft


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen