© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/04 03. Dezember 2004

Pankraz,
Abbé Sieyès und der Extremismus der Mitte

Der Extremismus der sogenannten politischen Mitte nimmt allmählich fürchterliche Formen an. Nicht nur verwenden ihre Protagonisten ein immer radikaleres, extremeres Vokabular, um ihren Standpunkt als den einzig möglichen, einzig erlaubten hinzustellen und ihre Meinungsgegner vorab zu kriminalisieren, sie greifen auch - da sie die Macht dazu haben - zu extremen Gewaltmitteln, wenn es darum geht, die eigene Position zu befestigen und gegen konkurrierende Bestrebungen abzuschirmen.

Parteien, obwohl zugelassen und strikt im Rahmen der Gesetze operierend, werden im Auftrag der extremistischen Mitte vom "Verfassungsschutz" planmäßig "zersetzt", d.h. mit Agent-Provokateuren überzogen, die die Rhetorik ihrer Opfer heimtückisch "anschärfen" und sie zu kriminellen Taten anzustiften versuchen. Banken und Sparkassen werden aufgehetzt, unbequemen, nicht der Mitte angehörigen Parteien, Zeitungen und Persönlichkeiten die Konten zu kündigen, sie aus dem ökonomischen Kreislauf und überhaupt aus dem bürgerlichen Verkehr auszugrenzen.

Kinder unbequemer Politiker und Publizisten werden aus ihren Schulen verwiesen, Ärzte weigern sich unterm Beifall extremistischer Mitte-Medien, solche Kinder bei Krankheit zu behandeln oder in ihre Klinik aufzunehmen. Eine böse Art von Sippenhaftung macht sich breit, die man längst überwunden glaubte. Statt Diskussion setzt es Stigmatisierung. Gegnerschaften werden absichtsvoll zu absoluten Feindschaften vorgetrieben, bewußt wird ein Klima der Bürgerkriegs erzeugt.

Eine notwendige Folge dieser Exzesse ist, daß sich die politische Mitte, die angeblich verteidigt werden soll, immer mehr verflüchtigt bzw. ihr Spektrum sich derart verengt, daß am Ende nichts mehr übrigbleibt als ein ganz schmaler Kanon offiziell zugelassener Verhaltensweisen und "Werte", zu denen man sich unermüdlich bekennen muß, um nicht in den Ruch eines Verfassungsfeinds zu kommen.

Regierungskoalition und parlamentarische Opposition sind in Deutschland schon derart angenähert, daß es Außenstehenden schwerfällt, außer Floskeln noch eine substantielle Differenz festzustellen. Einziges noch wahrnehmbares Unterscheidungsmerkmal: Die einen sind an der Macht, die anderen wollen an die Macht.

Außerdem verschiebt sich das Richtmaß für politische Mitte unter Einfluß der Medien und selbsternannter Polit-Aufseher ständig nach links, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa. Die Ablehnung des bekennenden Katholiken Buttiglione als EU-Kommissar und die damit verbundenen Straßburger Reden machten es überdeutlich: "Mitte" bedeutet für die hiesigen Macht ausübenden Kräfte einen (an herkömmlichen Maßstäben gemessen) extrem linken Standpunkt, der um die Stichworte "Strikter Laizismus, Homo-Ehe, Feminismus" gruppiert ist. Alles, was davon abweicht, gar dagegen anzureden wagt, wird bereits in die Nähe von "Radikalismus" und "Extremismus" gerückt.

"Radikalismus", "Extremismus" - an sich sind das keine inhaltlichen, sondern formale Bestimmungen, Bestimmungen überdies, die von Haus keineswegs einen durchgehend negativen Klang haben. Eine Sache "radikal" anzugehen, zeugt üblicherweise von scharfem Blick und starkem Charakter. Und der Begriff des "Extremismus" findet sein positives Widerlager in den Extremitäten, Armen und Beinen, die im Gegensatz zu Bauch und Hintern die beweglichen, die Dinge verändernden Bestandteile eines Organismus sind.

Freilich wird nicht nur in der Politik, sondern im Leben allgemein das "Maß" als die Mutter aller Vernunft gepriesen, die "maze" der mittelalterlichen Hofbarden, das "Maßhalten" Ludwig Erhards. Ein Politiker redet und handelt vernünftig, indem er Maß zu halten versteht, sowohl in der Rhetorik als auch beim Gesetzemachen und Exekutieren.

Genau deshalb wird es heute fällig, in erster Linie einen Extremismus der (längst linken) Mitte zu kritisieren. Denn die Mitte (bzw. jene Truppe, die sich jeweils zur Mitte erklärt) hat die Macht, gebietet über Gesetz und Polizei. Sie in erster Linie hätte Maß zu halten, um die Zustände im Lande nicht unerträglich zu machen. Aber sie hält nicht Maß. Sie ist extremistisch und vergiftet das Klima.

Daß so etwas à la longue zu bösen Häusern führt, lehrt die Geschichte. Im Parlament der französischen Revolution von 1793/94 gab es ja schon einmal eine Verquickung von Mitte und "linkem Rand" und anschließend eine Verabsolutierung, ja, Vergöttlichung dieser Koalition. Linke Jakobiner und "der Sumpf" (le marais), wie der selber sumpfige Abgeordnete Abbé Sieyès hellsichtig die damalige Mitte nannte, gingen zusammen, beschuldigten die girondistische Rechte des Monarchismus und des Verrats. Wer sich von den armen Girondisten nicht schleunigst und lautstark zu den revolutionären "Werten" bekannte, wurde unnachsichtig angeklagt, verurteilt und auf der Guillotine einen Kopf kürzer gemacht.

So kam es, wie es kommen mußte: Aufbegehren der bürgerlichen Volkskräfte, "Reaktion", Staatsstreich Napoleons, jahrzehntelanger, unendliche Opfer fordernder europäischer Krieg. Und schuld an dem Desaster war in erster Linie die politische Mitte, der Sumpf, wo sich jeder der gewählten Spießer aufplusterte und wichtig machte, sich ohne das geringste eigene Nachdenken unendlich im "Recht" wußte, feige und blindlings sich dem Zeitgeist anpaßte und damit den Jakobinern erst die Grundlage ihrer Macht schuf.

Zweifellos gibt es viele Formen des Extremismus, in allen Lagern kann man das Maß aus den Augen verlieren. Doch der Extremismus der Mitte ist der schlimmste und degoutanteste. In ihm verbinden sich Feigheit und Dummheit, Rechthaberei und Intoleranz zu einer Mischung, die höllisch ist und das Leben ganzer Völker für lange lähmen kann.


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