© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/04 10. Dezember 2004

Das Ringen um die Erinnerung
Ausstellung: "Mythen der Nationen - 1945" im Deutschen Historischen Museum in Berlin
Ekkehard Schultz

Wie erinnern sich Nationen an besonders einschneidende Erlebnisse in ihrer Geschichte? Welche Strategien entwickeln sie, um Elemente kollektiver Freude und schweren Leidens für spätere Generationen zu bewahren? Ab welchem Zeitpunkt tritt die individuelle Erinnerung gegenüber dem kollektiven Gedenken zurück? Immer wieder standen solche Fragen in den vergangenen Jahren im Fokus vieler Ausstellungen des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin.

Ob der Schwerpunkt auf der Gründung der europäischen Nationen, dem Ersten Weltkrieg, dem Kalten Krieg oder der DDR-Geschichte lag - alle Beispielen zeigten, daß das Ringen um die angemessene Form der Erinnerungsarbeit nicht nur ein äußerst langwieriger Prozeß, sondern zugleich auch eine politische und kulturelle Machtfrage ersten Ranges ist.

Nun wird im Untergeschoß des DHM ein Kapitel der Erinnerungskultur aufgeschlagen, in dem sich solche Machtfragen in besonderer Weise manifestieren: Unter dem Titel "Mythen der Nationen - 1945. Arena der Erinnerungen" widmet sich eine Präsentation auf rund 1.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche mit Hilfe von über 400 Objekten der Alltagskultur wie Fotos, Gemälden, Broschüren, Medaillen und Filmen der Frage, in welcher Form das Gedenken der Nationen des gesamten europäischen Kontinents, der Vereinigten Staaten sowie Israels an die Jahre 1939 bis 1945 erfolgt.

Die Ausstellung beruht auf der These, daß der Zweite Weltkrieg das "Schlüsselereignis" des 20. Jahrhunderts gewesen sei - eine Behauptung, über die sich wegen ihrer groben Vereinfachung streiten läßt. Unbestreitbar ist allerdings, daß der Erinnerung an die Jahre 1939 bis 1945 heute noch in den meisten Staaten eine besondere Rolle zukommt - im Vergleich zu vielen anderen historischen Ereignissen, die allein schon durch das Fehlen von entsprechenden Ritualen zunehmend verblassen. Daß der Zweite Weltkrieg in vielen Nationen noch heute als das wichtigste Ereignis der jüngsten Historie betrachtet wird, unterstreicht allerdings auch, wie sehr dieses Thema immer noch emotional aufgeladen ist. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß die damalige Katastrophe den "Weg in die Geschichte" - so die Beschreibung im Ausstellungskatalog - noch nicht gefunden hat.

Auffällig ist, daß sich die Bewältigungsstrategien vieler Nationen des europäischen Kontinents - trotz unterschiedlicher Kriegserlebnisse und Folgen des Krieges - bereits kurz nach 1945 ähnelten. Zwei Faktoren waren dafür in erster Linie verantwortlich: Zum einen fand die Sichtweise der alliierten Sieger schnell Aufnahme in die nationale Geschichtsschreibung. Auch die von den Siegermächten geprägten Formen des Erinnerns wurden - mit wenigen Ausnahmen - von anderen Nationen übernommen. Die Gründe für diese Anpassung liegen auf der Hand: Zum einen galt es, das eigene Selbstwertgefühl wieder aufzubauen oder zu festigen, welches unter militärischen Niederlagen bzw. der Besatzung gelitten hatte. Schon aus diesem Grund lohnte es sich, die eigene Nation auf die Seite der Sieger zu stellen - und sei es auch nur, um eine genauere Nachprüfung der eigenen Verstrickung in das NS-System zu verhindern. Zum anderen sollte zum Zwecke eines raschen Wiederaufbaus innerhalb der zerrissenen Gesellschaften ein Prozeß der Befriedung eingeleitet werden, der auf eine Aussöhnung auf möglichst breiter Basis zwischen Kollaborateuren, Mitläufern und Gegnern des Nationalsozialismus hinauslief.

So zeichnete sich die erste Phase des Erinnerns, die in den meisten europäischen Staaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit einsetzte, durch eine radikale Verurteilung des NS-Regimes aus, mit dem zumeist das gesamte Deutschland gleichgesetzt und somit zum "Hort des Bösen" diabolisiert wurde. Zugleich galt es für die meisten Völker, den Anteil der NS-Kollaborateure und Mitläufer möglichst klein erscheinen zu lassen. Die Abrechnung mit diesen "Verrätern", denen vorgeworfen wurde, im Gegensatz zu nationalen Interessen gehandelt zu haben, erfolgte durch einige exemplarische Verurteilungen, in denen drastische Strafen verhängt wurden. Differenzierungen wurden nur in den seltensten Fällen vorgenommen.

Nationale Mythen verloren zunehmend an Bedeutung

Im Zuge der Spaltung des europäischen Kontinentes in unterschiedliche Einflußzonen traten auch die Unterschiede in der Erinnerungskultur zwischen den westlichen und östlichen Staaten immer deutlicher hervor: Während in den westeuropäischen Staaten versucht wurde, nachträglich einen möglichst breiten nationalen Widerstand gegen das NS-Regime zu konstruieren, sah es hinter dem Eisernen Vorhang anders aus. So war es der Sowjetunion wichtig, nicht nur ihren eigenen Anteil an der "Befreiung der Völker" hervorzuheben, sondern den kommunistischen Widerstand überhaupt als einzig erfolgreiche Form der Abwehr des Nationalsozialismus erscheinen zu lassen. Erinnerungen an den bürgerlichen Widerstand, zum Beispiel an den polnischen Volksaufstand von 1944, waren dagegen unerwünscht.

Diese starre Form der Erinnerung, die in den meisten Staaten des Ostblocks noch bis in die achtziger Jahre gepflegt wurde, konnte nur in Ausnahmefällen durchbrochen werden. So fanden in Ungarn im Zuge des Aufstandes von 1956 schnell Geschichtsbilder, die im Gegensatz zu herrschenden Erzählungen standen, den Beifall breiter Bevölkerungsschichten. Zwar wurde nach der Niederschlagung des Aufstandes von staatlicher Seite wieder versucht, diese Alternativen aus dem kollektiven Gedächtnis zu streichen, doch die Pflege der Erinnerung an 1956 begann das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg zu überlagern.

Ein anderer Weg wurde auch in Jugoslawien beschritten, wo mit der Distanzierung der jugoslawischen Führung unter Josip Tito den zentralistischen Bestrebungen des Sowjetkommunismus eine intensive Pflege nationaler Widerstandserinnerungen entgegengesetzt wurden, die freilich nicht von den kommunistischen Idealen entkoppelt wurden. Auch in Rumänien unter der Herrschaft Nicolae Ceaucescus zeichnete sich ein vergleichbares Abrücken von den historischen Legenden des Sowjetimperiums ab.

Dagegen verloren in Westeuropa Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre die nationalen Mythen zunehmend an Bedeutung. Statt dem Leid der Zivilbevölkerung wurde der Verfolgung der Juden eine immer größere Beachtung geschenkt, wozu der Auschwitz-Prozeß, der Eichmann-Prozeß oder die Ausstrahlung der US-Fernsehserie "Holocaust" einen erheblichen Beitrag leisteten. Zunehmend überlagerte das Gedenken an den Holocaust die Trauer um das erlittene eigene Leid.

Dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft im Ostblock stellt insofern auch für die Erinnerungskultur eine Tendenzwende dar, als nun freier über die Vergangenheit debattiert werden konnte. Tatsächlich setzte in Osteuropa im Zuge der (Wieder-)Gründung vieler Nationalstaaten auch eine lebhafte Diskussion um die eigene Nationalgeschichte ein. Damit verlor in diesen Staaten, wie Lettland, Estland, Kroatien oder der Ukraine, das Jahr 1945 seine übermächtige Bedeutung.

1989 war eine Wende auch in der Erinnerungskultur

Ein interessantes Kapitel ist die Entwicklung der Erinnerungskultur in der DDR bzw. den neuen Bundesländern in der Umbruchsphase. Ähnlich wie in anderen ehemaligen Ostblockstaaten setzte auch in der DDR ein Prozeß ein, in dessen Verlauf historische Tabus aufgebrochen und ein Trend zu einer Umschreibung der Nationalgeschichte spürbar war. Allerdings konnte diese Entwicklung nur in begrenztem Maße Fuß fassen, da mit der Vereinigung mit der Bundesrepublik auch das westliche Geschichtsbild nahezu über Nacht zum bestimmenden Faktor wurde. Vergleichbare historische Auseinandersetzungen, wie sie bis heute in den ehemaligen Ostblockstaaten stattfinden, waren in den neuen Bundesländern nur in eingeschränktem Maße möglich.

In Westeuropa kam es dagegen nach 1989 lediglich zu einer kurzen Erosion der bisherigen Prinzipien der Erinnerungskultur. Immerhin bot der Zusammenbruch des Kommunismus auch "Siegerstaaten" die Möglichkeit, eine lebhaftere Debatte um das Maß der eigenen Verstrickung in das NS-System bzw. um die fahrlässige Unterstützung des Kommunismus zu führen. So kam es zum Beispiel in Frankreich 1995 zu einer Anerkennung der eigenen "unverjährbaren Schuld" durch Staatspräsidenten Jacques Chirac.

Gegenüber den durchaus empfehlenswerten Begleitbänden zur Ausstellung weist die Präsentation aufgrund der Fülle des Materials aus beinahe 30 Ländern gravierende Nachteile auf: Was auf den ersten Blick gut gemeint sein mag, um das Thema auf einer möglichst breiten Basis darzustellen, stößt in der praktischen Ausführung auf didaktische und technische Grenzen. So hätte eine Beschränkung auf maximal zehn Nationen für den Besucher eine weit größere Übersichtlichkeit geboten. Dem Platzmangel fällt auch die dringend notwendige Dechiffrierung der Objekte zum Opfer, die äußerst wichtig wäre, da auch bei historisch gebildeten Besuchern eine Kenntnis der Ereignisgeschichte von über dreißig Nationen im 20. Jahrhundert kaum vorausgesetzt werden kann.

Bei vielen Interessierten dürfte der Rundgang daher starke Irritationen auslösen, ohne von tatsächlichem Erkenntnisgewinn begleitet zu sein.

Foto: Gerhard Richter, "Onkel Rudi" (1965): Das eigene Leid verblaßt

Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, I.M. Pei-Halle, Hinter dem Gießhaus 3, ist bis zum 27. Februar 2005 zu sehen. Info: 030 / 20 30 40. Die beiden reich bebilderten Katalogbände (ingesamt über 970 Seiten) kosten in der Ausstellung 50 Euro, als Buchhandelsausgabe 128 Euro.


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