© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/53 04 17./24. Dezember 2004

"... schafft sich eine Welt nach eigenem Bild"
Reformdebatte: Plötzlich erscheinen Sozialismus und Liberalismus wieder als gute Ideen
Klaus Motschmann

Die Auseinandersetzungen der letzten Monate um die sogenannte Reformpolitik der Bundesregierung haben inzwischen zu einer perfekten Verwirrung der bislang bekannten Positionen und Begriffe geführt. Nur die wenigsten dürften noch einen klaren Überblick über den Stand der Dinge haben. Dennoch lassen sich zwei klare Leitlinien erkennen, die zum Verständnis des Ganzen beachtet werden sollten.

Zunächst fällt auf, daß die Auseinandersetzungen fast ausschließlich im "Trichterkreis der Reduktion" auf ökonomische Aspekte geführt wird - und zwar in allen Details bis auf Zehntelprozente aller möglichen Beiträge und Zuschüsse, über die Höhe von Rentenzahlungen und Versorgungsansprüche im Jahre 2040, Pendlerpauschalen und Zahnersatz, Kindergeldern, Besteuerung von Ehepaaren usw.,usw.

Sodann fällt auf, daß eine klare Orientierung auf ein bestimmtes Ziel nicht zu erkennen ist. "Wer das Ziel nicht kennt (bzw. nicht nennt), kann den Weg nicht finden", sagt eine Volksweisheit. Wer aber Weg und Ziel nicht kennt, wird das notwendige Vertrauen nicht finden und damit auch nicht die erforderliche Gefolgschaft zur Bewältigung großer Gemeinschaftsaufgaben. Die Bundesregierung hat dies inzwischen erkannt und spricht von "Vermittlungsproblemen". Immerhin!

So erklärt es sich, daß alte, durch die Geschichte längst widerlegte Ideologien nicht nur naiv-fröhliche, sondern höchst bedenkliche Urständ feiern können. Als Reaktion auf den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus erlebte der klassische Wirtschaftsliberalismus neue Aufmerksamkeit; als Reaktion auf die wirtschaftlichen Rückschläge unserer Wirtschaft erlebt der klassische Sozialismus eine entsprechende Aufmerksamkeit. Dies um so mehr, als alle reichen Erfahrungen mit beiden Ideologien in Geschichte und Gegenwart als "Entartungen" guter Ideen erklärt wurden, womit die Vorstellung "guter Ideen" sowohl im Blick auf den Liberalismus als auch auf den Sozialismus suggeriert wird.

Das Haben statt des Seins bestimmt soziales Verhalten

Niemand wird die Bedeutung des klassischen Liberalismus für die wirtschaftliche und damit auch die politisch gesellschaftliche Entwicklung in Europa und den USA bestreiten. Auch die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern seit 1990 ist im wesentlichen durch die Leistungsfähigkeit des liberalen Wirtschaftssystems zu erklären, so sehr auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben.

Allerdings sollten auch einige ideologische Aspekte beachtet werden, die zum Wesen des klassischen Liberalismus gehören und die seit dem Zusammenbruch des Sozialismus wieder stärker hervortreten.

Dabei ist in erster Linie an den unerschütterlichen Glauben zu denken - allen gegenteiligen geschichtlichen Erfahrungen zum Trotz -, daß sich die Wirtschaft eines Landes am besten dann entwickele, wenn ihre vermeintliche Eigengesetzlichkeit beachtet und alle Eingriffe von außen, insbesondere des Staates, auf ein Minimum eingeschränkt würden. Der Staat sollte lediglich für "gute Münze, gute Straßen und gute Gesetze" zum Schutze der Menschen sorgen und damit die Funktionen eines "Nachtwächters" wahrnehmen. Nach einem allen Dingen dieser Welt innewohnenden ordre naturel würden sich dann - in Analogie zu den Naturgesetzen - auch in der Wirtschaft die verschiedenartigen Interessen und auch mögliche Störungen wie von einer "unsichtbaren Hand" ausbalancieren und zu einer prästabilisierten Harmonie, zum "größten Glück der größten Zahl" führen.

Entscheidende Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieses Systems ist die Emanzipation des Menschen von allen traditionellen, religiösen und staatlichen Zwängen, die sein soziales Verhalten über Jahrhunderte bestimmt haben. Das allein maßgebende Motiv für alle wirtschaftlichen Tätigkeiten sollte das persönliche Interesse, der Eigennutz und das egoistische Streben nach Gewinn und Eigentum sein.

Damit wurden die geistigen bzw. ideologischen Voraussetzungen für einen radikalen Wandel von einem bislang transzendenten zu einem immanent bestimmten Menschen- und Gesellschaftsverständnis geschaffen, das bis in unsere Gegenwart hineinwirkt. Das soziale Verhalten wird immer weniger durch sogenannte "Seins-Strukturen" (Familie, Kirche, Nation usw.) und dafür um so mehr durch sogenannte "Haben-Strukturen" (Eigentum, wirtschaftliche Stellung, Einkommen usw.) bestimmt.

Der amerikanische Soziologe David Riesman hat die sozialen Konsequenzen dieser Entwicklung als Wandel von der "Traditionslenkung über die Innenlenkung zur Außenlenkung" des einzelnen Menschen und der Gesellschaft beschrieben ("Die einsame Masse", 1958). Er veranschaulicht diese Entwicklung einprägsam daran, daß an die Stelle eines individuell bestimmten Kompasses, der eine individuelle Orientierung (christlich, konservativ, liberal) ermöglicht, ein Radargerät getreten ist, das die notwendigen Signale zu einer gemeinsamen Orientierung im Sinne der wirtschaftlichen Eigengesetze vermittelt.

Aber wenn das Prinzip der Anerkennung von "Eigengesetzlichkeit" und "Streben nach Eigennutz" beachtet werden soll, dann bedeutet dies in der Konsequenz "Anpassung an das System" - wenn auch freiwillig. In diesem Sinne ist der liberale Mensch ein "Opportunist aus System" (Moeller van den Bruck), der sich "den jeweiligen Strömungen und Prozessen haltlos ausliefert, ohne selbst die Initiative einer aktiven Steuerung zu besitzen", so der Theologe Helmut Thielicke.

Engels würdigt revolutionäre Rolle der Kapitalisten

Mit dieser Feststellung werden keine charakterlichen Defekte eines bestimmten Menschentypus angesprochen, sondern lediglich die folgerichtigen Verhaltensweisen, die sich aus dem Grundgedanken liberalen Denkens von Eigengesetzlichkeiten und ökonomischen Zweckmäßigkeiten ergeben. Verantwortliches Handeln verlangt eben auch Einsicht in die Notwendigkeit. Insofern hat der Liberalismus nicht nur eine bis dahin ungeahnte Dynamik der wirtschaftlich technischen Entwicklung ausgelöst, sondern auch eine soziale Katastrophe, die tief in das kollektive Bewußtsein der von der "industriellen Revolution" betroffenen Völker hineinwirkte. Sie belastet bis heute als schwere Hypothek Theorie und Praxis des Wirtschaftsliberalismus.

Dabei ist nicht nur an das konkrete soziale Elend zu denken, von dem Millionen und Abermillionen Menschen in Westeuropa und den USA erfaßt worden sind. Der junge deutsche Unternehmer Friedrich Engels, der einen Zweigbetrieb des Elberfelder Familienunternehmens in Manchester leitete, hat dieses Elend in seiner umfangreichen Untersuchung zur "Lage der arbeitenden Klasse in England" eindrucksvoll dargestellt. Es handelt sich um eine der ersten grundlegenden Arbeiten des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus, die zu seinem Verständnis unerläßlich ist. Sie veranschaulicht, welch enger Wirkungszusammenhang zwischen Liberalismus und Sozialismus besteht, und zwar nicht nur im Sinne der bekannten Anklagen gegen das kapitalistische System, sondern wegen der - heute weithin unbekannten - ausdrücklichen Würdigung der fortschrittlich-revolutionären Rolle der Kapitalisten in einer bestimmten Phase der wirtschaftlichen Entwicklung.

In dem wenige Jahre später veröffentlichten Kommunistischen Manifest heißt es dazu: "Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. (...) Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von alterwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst; alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung und ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. (...) Die Bourgeoisie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. (...) Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und unmöglich und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur. (...) Mit einem Wort: Sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde."

Selbstverständlich ist niemand vor Zustimmung von falscher Seite sicher. Dennoch lohnt es sich, über die Gründe für diese Zustimmung nachzudenken und notfalls entsprechende Konsequenzen zu ziehen.

Zur Vermeidung von Mißverständnissen haben Marx und Engels stets darauf verwiesen, daß die progressive Rolle der Kapitalisten vor allem darin besteht, ihre eigenen Prinzipien ad absurdum zu führen und damit den Weg für eine sozialistischen Revolution zu ebnen. Es handelt sich also um eine mustergültige Schrittmacherrolle des Liberalismus am Aufkommen des Sozialismus. "Wir können das alles dem Bourgeois geradezu sagen, wir können mit offenen Karten spielen. Sie mögen es vorher wissen, daß sie nur in unserem Interesse arbeiten. (...) Kämpft also nur mutig fort, ihr gnädigen Herren vom Kapital, wir haben euch vorderhand nötig, wir haben sogar hie und da eure Herrschaft nötig. Ihr müßt uns die Reste des Mittelalters und die absolute Monarchie aus dem Wege schaffen, ihr müßt den Patriarchalismus vernichten, ihr müßt zentralisieren, ihr müßt alle mehr oder weniger besitzlosen Klassen in wirkliche Proletarier, in Rekruten für uns verwandeln" (Friedrich Engels, 1847).

Es ist nicht bekannt, daß die angeblich gewandelten Sozialisten von diesem Ziel grundsätzlich abgerückt sind. Richtig ist, daß an gewaltsame revolutionäre Lösungen zur Zeit offensichtlich nicht gedacht wird. Warum auch? Der Prozeß der Erosion der bisherigen staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung geht zügig voran und weckt bei den Sozialisten berechtigte Hoffnungen auf ein Wiedererstarken ihrer Bewegung. An aktuellen Beispielen dafür fehlt es nicht.

Liberal-Konservative fordern radikale Lösungen

Wie weit der Prozeß ideologischer und politischer Verwirrung vorangeschritten ist, läßt sich daran erkennen, daß inzwischen auch in konservativen Zirkeln und Zeitschriften von der "vollständigen Eliminierung des gegenwärtigen sozialen Sicherheitssystems" geträumt wird. Radikaler als von den 68ern wird "die fast vollständige Auflösung und Dekonstruktion des gegenwärtigen Staatsapparates und der Regierungsmacht (gefordert). Wenn man jemals Normalität wieder herstellen möchte, müssen die Finanzmittel und die Macht der Regierung auf oder sogar unter das Niveau des 19. Jahrhunderts fallen. Echte Konservative müssen von daher libertäre Hardliner (Anti-Etatisten) sein. Der soziale Nationalismus der populistisch-proletarischen Konservativen ist verfehlt: Er möchte zur traditionellen Moral zurückkehren, fordert aber gleichzeitig, daß gerade die Institutionen erhalten bleiben, die für die Pervertierung und Zerstörung traditioneller Moral verantwortlich sind." (Hans-Hermann Hoppe)

Es wäre ein grober Irrtum, in dieser Einstellung ein Indiz oder gar einen Beweis für eine bewußte Unterstützung sozialistischer Ziele zu sehen. Aber auch hier gilt Napoleons Bonmot, daß die besten Agenten politischer Ideen diejenigen sind, die sich dessen gar nicht bewußt sind. Deshalb ist es erforderlich, die Auseinandersetzungen um die sogenannte Reformpolitik der Bundesregierung aus dem Bannkreis ökonomisch-sozialpolitischer Einzelheiten zu lösen, so wichtig diese auch für die Betroffenen sein mögen.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.

Bild: Carl Spitzweg, "Der eingeschlafene Nachtwächter" (Ausschnitt): Längst widerlegte Ideologien


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