© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/53 04 17./24. Dezember 2004

Ein Lob den Großeltern
von Ulrich Beer

Welche Rolle spielen heute noch die Großeltern? In jeder früheren Gesellschaft nahm der ältere Mensch eine wichtige, unmittelbare Bildungsfunktion wahr. Er sorgte für die Überlieferung von Kultur und Tradition, die im wesentlichen auf persönlicher Weitergabe beruhte. Märchen, Mythen und Fabeln, die biblischen Geschichten und Volkslieder wurden mündlich überliefert.

Heute sieht das alles anders aus. In den letzten einhundert Jahren hat sich unser aller Leben sehr geändert. Die Menschen haben eine weitaus höhere Lebenserwartung. Durch die Technisierung werden die körperlichen Kräfte geschont. Viele Menschen erleben noch ihre Enkel und Urenkel. Sie haben viel Zeit, über alles nachzudenken. Früher waren die Tage auch der älteren Menschen mit Arbeit angefüllt, heute muß oft zuviel Freizeit gestaltet werden.

Wurden früher die Älteren, einfach weil sie mehr gesehen hatten und dadurch mehr wußten, verehrt und um Rat gefragt, so wird heute oft in übertriebenem Maße die Jugend verkultet. Wenn vor einigen Jahren die Twens als Zielgruppe angepeilt wurden, so sind es heute bereits die Teens, ja schon kleine Kinder werden als Konsumenten mit Taschengeld wichtig.

Werte und Normen, die für die ältere Generation Sinn und Ordnung der Dinge bedeuten, werden in Frage gestellt. Ganz schnell folgt eine Meinung auf die vorige. Und sofort ist die von gestern "veraltet". Und "veraltet" ist fast schon ein Schimpfwort. Fast - das heißt, bis wir wieder den Mut haben, "Stop" zu sagen.

Das Bildungsgefälle war früher eindeutig von Alt nach Jung hin abfallend. Heute scheint es anders zu sein. Oft ist also eine Art Sprachverwirrung daran schuld, daß Alte und Junge sich nicht mehr verständigen können. Jeder neue Trend hat seine eigenen Worte, die fleißig durch die Medien verbreitet werden. Mancher ältere Mensch steht etwas hilflos vor diesem Wust und glaubt womöglich, daß die Jüngeren, die so leichthin mit diesen Begriffen jonglieren, auch noch genauestens Bescheid wissen, was sich dahinter verbirgt.

Keine Angst vor Neuerungen! Die Älteren haben durch Erfahrungen ein Sieb in der Hand, mit dem sie sehr schön das Dauerhafte vom Kurzlebigen trennen können. Aber: Nur wer bewußt sein Alter annimmt, kann mit klarem Blick seine Erfahrungen ausspielen. Mitspielen heißt es. Nicht auf der Stufe der Jugend, im Gewand der Jugend.

Der ältere Mensch hat genau wie seine Nachkommen die Möglichkeit, sich zu informieren. Auf einen Satz von Jüngeren und ganz Jungen wie: "Davon verstehst du nichts", gibt es doch nur eine Antwort: "Dann erkläre es mir bitte!" Wir können heute in unseren Gedanken nicht mehr so leben wie vor der ersten Atombombenexplosion oder vor der Mondlandung. Aber ebenso gilt, daß die Sehnsucht der Menschen in dieser Welt, in der im Guten wie im Schlechten alles möglich geworden ist, an der Weisheit und Ruhe der vorigen Generationen hängt.

Für unseren Standort in jedem Lebensalter sind wir selbst verantwortlich. "Den" Großvater oder "die" Großmutter gibt es ebensowenig, wie es "die Jugend von heute" gibt. War früher die Rolle der Älteren vorgezeichnet, so ist sie heute vom einzelnen erst einmal zu suchen. Wenn er sie aber annimmt, findet er einen großen Variationsreichtum, denn die Älteren haben mehr Zeit und durch den Enkel nun auch einen konkreten Anlaß zum Austausch. Wenn die Großeltern nicht Verehrung fordern, andererseits die Jugend nicht beneiden und durch Kumpelei zu gewinnen suchen, sondern ihren eigenen, persönlichen, aufgabenreichen Weg gehen, tut sich vor ihnen ein fruchtbares Feld auf, das es zu bestellen gilt.

Die Großeltern stehen an der Spitze der Familie. Sie gehen den folgenden Generationen voraus. Sie helfen, die Stabilität in dem "Gefüge Familie" zu gewährleisten. Wie sie das aber im einzelnen tun, müssen sie heute selbst herausfinden, weil sie nicht mehr genau festgelegte Aufgaben in dem begrenzten Raum "Altenteil" haben, sondern viel selbständiger sind. Wenn sie gesund sind, stehen sie noch genauso im Leben wie zehn oder fünfzehn Jahre zuvor, als sie noch praktizierende Eltern waren.

Weil junge Menschen oft nicht wissen, was aus ihnen werden wird oder was sie werden wollen, neigen sie dazu, abzuwehren und abzulegen, was war - der Freiheit wegen. Die Großeltern aber haben ihren Standort gefunden, sie können mit liebevoller Distanz zusehen, wie auch ihre Kinder ihren Standort suchen und finden. Die Großeltern sind innerlich zur Ruhe gekommen. Sie sind die idealen Partner für alle Jüngeren, die Partner, die Geduld haben, Zeit haben, zuhören können, ja die Liebe zeigen können, bevor sie eifersüchtig Liebe und Anerkennung erwarten.

Großeltern können mit den Kindern träumen. Sie können es sich wieder leisten - die Kinder noch. "Omi, erzählst du von früher? Aus der Zeit, als noch nicht jeder ein Auto hatte, als man sich noch nicht vorstellen konnte, daß Menschen auf dem 'guten Mond' herumlaufen würden?" - Als die Wäsche noch nicht mit der Waschmaschine gewaschen und die "Musik noch mit der Hand gemacht" wurde, wie es in einem Lied heißt.

Natürlich dürfen Großeltern nicht glauben, im Leben des Enkels oder der Enkelin die entscheidende Rolle zu spielen. Sie können keinen Freund und keine Freundin ersetzen.

Wenn der Enkel merkt, daß die Großmutter, der er in der Regel sehr bald eine Haupteslänge über den Kopf gewachsen ist, kokett zu ihm hochschaut wie zu einem Beschützer, wird er diese Rolle übernehmen, ja er wird die Großmutter in dieser Rolle sogar ausnutzen. Wenn sie nur den einen Part spielen will, ist es zu wenig, und er wird vielleicht zu seinen Freunden sagen: "Mit meiner Großmutter kann ich machen, was ich will!"

Will der Großvater seine Enkelin beschenken und mit ihr ausgehen? Warum nicht? Es gibt herrliche lebenslange Freundschaften zwischen Großvater und Enkelin - aber nur diese eine Rolle ist zu wenig. Immer wenn die Älteren sich auf nur eine Möglichkeit aus dem Schatz ihrer ganzen Person reduzieren lassen, etwa auf den Geldgeber, um noch mitspielen zu dürfen, kann das nicht gutgehen.

Die Alten sind den Kindern näher. Diese Aussage richtet sich gegen niemanden. Aber da beide nicht direkt im Erwerbsleben stehen, ergibt sie sich. Nur die Alten und die Jungen haben wirklich Zeit für die unbefahrenen Wege und den Blick frei für die bunten Kiesel am Wegesrand. Aus der Funk-tionslosigkeit im Arbeitsleben entsteht zwangsläufig eine Funktion, die nicht auf "vernünftige" Zeiteinteilung und Geldverdienen ausgerichtet ist.

Heute wissen wir wieder, wie wichtig und wie stark die Kräfte sind, die nicht mit materiellen Werten zugedeckt werden können. Hier sind sie! Und sie wollen verwirklicht werden! Was liegt also näher, als daß diese beiden Gruppen sich verständigen und zusammentun? Dabei werden zunächst die Großeltern den Ton angeben und darauf achten, die Eltern nicht zu kränken.

Es ist ganz natürlich, daß sich Großeltern und Enkel leichter verstehen. Sie unterliegen nicht dem Druck, sich durchsetzen zu wollen.

Merkwürdigerweise lehnt die Jugend in der Auseinandersetzung mit ihren Vätern sich an ältere Vorbilder an, während sie den eigenen Vätern vorwirft, sie seien "verkalkt". Man erinnern sich, wie gläubig die Enkel unter den Namen Marcuse, Marx und Mao den Großvater gegen die Väter verteidigten.

Was steckt dahinter? Eine Befreiung von dem, was sie als Erziehungsprinzip erkennen. Befreiung, um erwachsen zu werden. Da der Takt der Geschichte einseitig ist, wird in einer Generation die Leistung betont und zum Beispiel die Liebe etwas vernachlässigt, in der nächsten darauf die Liebe der Leistung vorgezogen. So wird es eine einfache Rechenaufgabe, bei der herauskommt: Großväter und Enkel können wieder dieselben Ideale haben.

So wechselt zum Beispiel die Betonung von wirtschaftlichem Erfolg ab mit der Betonung von Geisteskultur. Der Gründer etwa eines Handelsimpe-riums kann schon glücklich sein, wenn seine Söhne bereit sind, es zu erhalten. Das sehen wir am berühmten Beispiel der Familie Buddenbrook, dem Verfall einer Familie, wie Thomas Mann sein Buch nannte. Zwischen Großeltern und Enkeln fällt der Kampf weg. Ja, der Umgang zwischen ihnen kann völlig krampffrei werden, wenn die Großeltern nicht starke Bindungen fordern, sondern die Enkel als Freunde betrachten, deren Freundschaft sie pflegen.

Noch etwas haben beide gemeinsam: Sie haben Zeit Und diese Zeit können sie kreativ nutzen, wenn die Älteren mit ihrer Erfahrung und die Jungen mit ihrer noch ungezügelten Phantasie sie zusammen verbringen. Beide zusammen ergeben eine neue Größe, die erst zwischen ihnen entsteht. Die Älteren können Dinge tun, die sie nie in ihrem Erwachsenenleben haben tun können, die zu tun sie sich aber immer gesehnt haben.

Die Großeltern müssen bereit sein, aus dem gewohnten Trott herauszugehen, der in der Regel ja auch nur ermüdend wirkt und ihnen dann wieder doppelt das Gefühl gibt, alt zu sein.

Dies hat Simone de Beauvoir scharf ausgesprochen: "Wollen wir vermeiden, daß das Alter zu einer spöttischen Parodie unserer früheren Existenz wird, so gibt es nur eine einzige Lösung, nämlich weiterhin Ziele zu verfolgen, die unserem Leben einen Sinn verleihen: Das hingebungsvolle Tätigsein für einzelne, für Gruppen oder für eine Sache, Sozialarbeit, politische, geistige oder schöpferische Arbeit. Das Leben behält einen Wert, solange man durch Liebe, Freundschaft, Empörung oder Mitgefühl am Leben der anderen teilnimmt."

Die große Menge Zeit, die zum Schrecken vieler mit der Pensionierung nicht nur vor der Tür steht, sondern sich bald auch in allen Wohnräumen breit macht, die Alten jetzt überallhin verfolgt, ja ihnen Angst macht wie ein betäubendes Gas, diese Zeit muß nur neu strukturiert werden. Mit Recht sagt Christian Morgenstern: "Wir brauchen nicht so fort zu leben, wie wir gelebt haben; macht euch nur von der Anschauung frei, und tausend Möglichkeiten laden euch zu neuem Leben ein."

Jetzt endlich haben Ältere Zeit, sich Wissen anzueignen, das nicht zu ihrem Beruf gehört. Je tiefer sie in die Geheimnisse der Welt eindringen, desto geheimnisvoller werden sie dem Enkel erscheinen. Unterhalten Sie sich, erzählen Sie Ihre Geschichte, und lassen Sie ihn seine Geschichten erzählen. Wenn Sie seine Freundschaft errungen haben, wird er auch seine Geheimnisse mit Ihnen teilen. Wenn Sie aber um sein Vertrauen buhlen und ihm nicht kritisch zu widersprechen wagen, werden Sie kein gleichwertiger Partner, kein des Vertrauens Würdiger sein. Wenn Sie sich die Nähe zu den Kindern nur einbilden, weil Sie an sich selbst nicht den kritischen Maßstab ansetzen, liefern Sie sich selbst dem sanften Terror aus, wie er etwa in Heimen an alten Menschen geübt wird. Sie werden dann wie Kleinkinder behandelt, worauf der Vorgang des psychologischen Alterns beschleunigt eintritt.

Alles, was nur zweckmäßig ist, beschränkt die Phantasie. Das Leben ist heute funktionell, ja so funktionell, daß der Mensch, wenn er keine Erwerbsfunktion mehr hat, praktisch wertlos wird. Dabei wird die Generation, die heute so praktisch denkt, morgen selbst alt sein - und all die praktischen Rationalisierungen werden sie dann selbst überflüssig machen. Wer sich selbst keine Chance für die Zukunft läßt, muß dieser Ironie zum Opfer fallen. Die Alten hingegen müssen ihre Chancen wahrnehmen und sich nicht von dieser Irrlehre verwirren lassen. Nichts wäre falscher, als für das Alter geistigen Stillstand oder gar Abbau als natürliches Schicksal anzunehmen. Eine große Zahl von genialen Menschen beweist, wie sehr der menschliche Geist oft im höheren Alter zu seiner höchsten Entfaltung gelangt ist.

Miguel de Cervantes schrieb den "Don Quichotte" mit 57, Leo Tolstoi die "Auferstehung" mit 61 Jahren. Victor Hugo, Pierre Corneille, Henrik Ibsen, André Gide und viele andere waren als Siebzigjährige auf der Höhe ihrer geistigen Schaffenskraft. Louis Pasteur entdeckte mit 63 Jahren das Tollwutserum, Thomas Edison, der sich mit 74 Jahren als jungen Mann bezeichnete, erfand zwischen dem 60. und 80. Lebensjahr die Glühbirne, das Grammophon und viele andere nützliche Dinge.

Konrad Adenauer wurde mit 73 Jahren Bundeskanzler, Gustav Heinemann mit 70 Jahren Bundespräsident, und Luis Trenker erkletterte mit 75 Jahren das Matterhorn. Archimedes entdeckte im gleichen Alter den Brennspiegel, Plato schrieb mit 80 Jahren seine schönsten Dialoge, Goethe vollendete den zweiten Teil des "Faust" sogar erst mit 82 Jahren. Pablo Picasso malte mit 90 so schaffensfreudig wie seine über 80jährigen Kollegen Marc Chagall und Oskar Kokoschka, der 90jährige Cellist Pablo Casals veranstaltete noch jährlich seine Musikfestspiele in Prades. Im gleichen Alter dirigierte Robert Stolz noch Unterhaltungsorchester und komponierte für sie. Der Komponist Daniel-François-Esprit Aubert, der mit 87 seine letzte Oper schrieb, pflegte zu sagen: "Ich bin nicht achtzig, sondern viermal zwanzig Jahre alt."

Der irische Nobelpreisträger George Bernard Shaw hält auch hier, was er verspricht; er setzt dem ganzen die Krone auf. Als ein Reporter an seinem 93. Geburtstag in Aussicht stellte, er hoffe ihn beim Hundersten wieder gesund anzutreffen, antwortet er: "Warum sollten Sie nicht? Sie sehen doch noch ganz rüstig aus!" So geht's auch, Humor hält jung und zieht die Jugend an.

 

Prof. Dr. Ulrich Beer, Jahrgang 1932, Diplom-Psychologe, war sachverständiger Berater der langjährigen Fernsehsendung "Ehen vor Gericht". In diesen Tagen erscheint von ihm im Centaurus Verlag, Herbolzheim, in der Reihe "Kleine Lebenshelfer" die Schrift "Großeltern - ein gar nicht so nebensächliches Amt". Bergbauarbeiters aus Butcher Hollow!der JF


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