© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/05 07. Januar 2005

Kleine Völker für großen Wandel
Ukraine: Krimtataren, Ungarn und Ruthenen unterstützten bei dem wochenlangen Machtkampf ums Präsidentenamt die westlich orientierte Opposition
Martin Schmidt

Der wochenlange Machtkampf in der Ukraine ist entschieden. Die westlich orientierte Opposition unter Führung ihres Spitzenkandidaten Viktor Juschtschenko konnte am 26. Dezember bei der Wiederholung der Präsidentschaftswahl mit rund 53 Prozent den Sieg davontragen. Der bei der Präsidentschaftswahl unterlegene nach Moskau ausgerichtete Politiker Viktor Janukowitsch hat inzwischen seine Niederlage eingestanden und den Rücktritt als Regierungschef erklärt. Mitte Januar soll Juschtschenko zum neuen Staatsoberhaupt ernannt werden.

Dieser mit vielen Fragezeichen versehene Erfolg hat viele Väter: die Hunderttausenden von Anhängern der Opposition in den Straßen von Kiew, die breite Bevölkerung in der mitteleuropäisch geprägten Westukraine sowie in der Zentralukraine, einflußreiche Wirtschaftsvertreter und nicht zuletzt die propagandistische (und zweifellos auch geheimdienstliche) Hilfe von Ländern wie den USA oder Polen.

Eine Stütze der Opposition findet bislang kaum Erwähnung: die der Minderheiten nämlich. So signalisierte Mustafa Dschemiljow im Namen des "Medschlis" der Krimtataren den demonstrierenden Massen auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz bereits Ende November die volle Unterstützung der von ihm geführten Volksgruppe.

Die Ablehnung einer vom russisch dominierten Osten des Landes geführten Ukraine bestimmt auch die Haltung der in der sogenannten Karpaten-Ukraine lebenden Ungarn - nach offiziellen Angaben von 1989 knapp 156.000 Menschen. Deren Kulturverband und die von diesem erst Anfang November 2004 gegründete "Ungarische Partei der Ukraine" stellten sich gleichfalls schon frühzeitig hinter Juschtschenko. Dieser sagte der Minderheit zu, als Präsident wolle er für sie einen eigenen Verwaltungsbezirk im unweit der Grenze zu Ungarn gelegenen Theiß-Tal gründen.

Janukowitsch profitierte von Russifizierungspolitik

Das von zahlreichen Völkern bewohnte ukrainische Gebiet westlich des Karpatenbogens ist auch die Heimat der Ruthenen. Diese favorisierten ebenso eindeutig die Opposition, zumal sie in ihrer Heimat unmittelbar die kulturelle Rivalität zu den in der Sowjetzeit massenhaft aus dem Osten zwangszugewanderten Russen, Ostukrainern und andern verspüren. Entsprechend gespalten waren dort die Wahlergebnisse. In der zweiten Runde der Präsidentschaftskür, am 21. November, votierten laut offiziellen Angaben im Gebiet Transkarpatien 55 Prozent für Juschtschenko, aber immerhin 40,07 Prozent für Janukowitsch. Diese Verteilung ist für die Westukraine ungewöhnlich, wo Juschtschenko im November beispielsweise im Gebiet Lemberg von 91,79 Prozent oder in der Region Tschernowitz von 74,5 Prozent der Wähler unterstützt wurde.

Die Karpaten-Ukraine erlebte im 20. Jahrhundert eine bewegte Geschichte. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges gehörte das Gebiet zur K.u.k-Monarchie, anschließend fiel sein größter Teil an den 1918 ausgerufenen Kunststaat Tschechoslowakei. Im Oktober 1938, nach dem Münchner Abkommen, bekam der Landstrich um Munkatsch und Ungvár kurzzeitig volle Autonomie. Trotz Unabhängigkeitserklärung kam das Gebiet im März 1939 wieder an Ungarn. Seit 1945 gehörte es zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, seit 1992 zur unabhängigen Ukraine.

Bereits zu Zeiten der 1848er Revolution vertraten einige Wortführer der Ruthenen (1900 waren es laut Volkszählung 540.000) erfolglos die Idee einer autonomen Region, in der sie im Rahmen des Habsburgerreiches zusammengefaßt sein wollten. In der k. u. k-Ära war es für diese Ostslawen mit traditionell überwiegend griechisch-katholischer Konfession, die sich selbst als "Russinen" (rusyn) bezeichnen, nicht möglich, sich der ukrainischen Nationalität zuzuorden. Dies galt ebenso für das Jahr 1941, als bei einem ungarischen Zensus in Transkarpatien 544.000 "Russinen" registriert wurden. Bei den sowjetischen Volkszählungen war dann umgekehrt ein Bekenntnis als Ruthene nicht vorgesehen, so daß sich beispielsweise 1989 fast eine Million Bewohner der Karpaten-Ukraine als "Ukrainer" definierten. Eine klare Unterscheidung zwischen ruthenischer und ukrainischer Identität ist unmöglich. Dennoch ist es falsch, wenn in Lexika der Begriff "Ruthene" nur als veraltete Bezeichnung für einen Ukrainer auftaucht. Alleiniger Maßstab sollte das Selbstverständnis der Menschen sein.

Regionale Selbstverwaltung für Transkarpatien

Als Umgangssprache verwenden die Ruthenen meisten einen ukrainisch-ostslowakischen Mischdialekt, teils mit polnischen und ungarischen Lehnwörtern. Für die Schriftsprache ist das kyrillische Alphabet in Gebrauch. Zahlenangaben von Exil-Ruthenen wie die von Paul R. Magocsi, dem Vorsitzenden des "Carpatho-Rusyn Research Center" in den USA, sind ebenso mit Vorsicht zu genießen wie jene des ukrainischen Staates. Magocsi spricht von 650.000 in Nordamerika lebenden Ruthenen sowie insgesamt 900.000 im östlichen Mitteleuropa, von denen wiederum 650.000 auf ukrainischem Gebiet zu Hause seien.

Am 1. Dezember 1991 wurde in Transkarpatien gleichzeitig mit dem Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine nach dem Interesse an einer regionalen Selbstverwaltung gefragt. 78 Prozent stimmten diesem Anliegen zu. Größtes Hindernis für eine Autonomie ist der labile Charakter der ukrainischen Nation, die in den Augen der maßgeblichen Politiker nur durch eine zentralistische Politik zusammenzuhalten ist. Mit dem gegenwärtigen Machtwechsel besteht nun jedoch die Chance auf grundlegende Veränderungen, zumal mittel- und langfristig selbst eine Abtrennung der Ostukraine möglich erscheint.

Auf jeden Fall hält die ruthenische Bewegung mehrere Trümpfe in der Hand. An erster Stelle sind dies die vor Ort aufgebaute politische Infrastruktur mit eigenen Vereinigungen, Publikationen und eigener Internetseite ( www.carpatho-rusyn.org ) sowie die intensive Zusammenarbeit mit ruthenischen Gemeinschaften in allen Erdteilen.

Eine Art "Joker" ist die Aussicht auf die - allerdings noch vage - "Euroregion Karpaten". Die naturräumliche Lage des mit dem übrigen ukrainischen Staatsgebiet nur durch einige Bergpässe verbundenen Landstrichs macht eine klare Westausrichtung der regionalen Wirtschaft auf Dauer unvermeidbar. Langfristig wird sich dann wohl auch die Politik dieser geographischen Determinante fügen müssen. Entscheidend wird sein, wie die EU regiert. Bislang hat Brüssel dieses zum "Alten Europa" gehörenden Gebiet fast völlig ignoriert.


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