© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/05 07. Januar 2005

"Die Welle war ein Ungeheuer"
Asien: Der Journalist Franz Alt läßt Überlebende der Tsunami-Tragödie im indischen Bundesstaat Tamil berichten
Franz Alt

Alagarzamy ist 45 Jahre alt. Der Astrologe ist Vater von drei Töchtern im Alter von drei, sieben und elf Jahren. Seit zwölf Jahren lebt er mit seiner Familie im südöstlichen indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Sein kleines Haus im Städtchen Vailankanni steht nur 80 Meter vom Golf von Bengalen entfernt.

Seine jüngste Tochter und seine Frau wurden am Morgen des 26. Dezember 2004 von der Killerflut in den Tod gerissen. Das Wort Tsunami hatten die Toten des 26. Dezember in ihrem Leben nie gehört. Alagarzamy konnte sich und seine beiden überlebenden Töchter mit viel Glück retten. Die Tsunami-Wellen hatten in zwanzig Minuten über zweitausend Kilometer entlang der indischen Küste entlang eine unvorstellbare Verwüstung angerichtet.

Jetzt, eine Woche später, steht der traumatisierte Astrologe auf den Trümmern seines Hauses und weint noch immer fassungslos. Er zeigt uns ein vergilbtes Foto seiner Familie in die Fernsehkamera. Wir filmen den zerfetzten Sari seiner Frau und die Spielsachen seiner Kinder, die im Schlamm hängengeblieben waren: einen farbigen Ball, einen bunten Regenschirm, ein Plastikflugzeug.

Aus der zerstörten Hütte nebenan wird gerade die Leiche eines älteren Mannes geborgen, als wir am Strand des bei Hindus und Katholiken gleichermaßen beliebten Wallfahrtortes Vailankanni die Reste der zerstörten Häuser filmen. Die Tsunami-Wellen haben in dem Fünftausend-Einwohnerort über tausend Tote gefordert. Für die Tragödie, die wir hier am Golf von Bengalen sehen und erleben, fehlen uns die Worte. Wir treffen hier die Partner der deutschen Entwicklungsorganisation Andheri-Hilfe Bonn, die in dieser Küstenregion Hilfe zur Selbsthilfe leistet. Wieder einmal hat es die Ärmsten der Armen getroffen, hauptsächlich Fischer und Tagelöhner.

Zu Weihnachten waren über zehntausend Pilger hierher gekommen. Nach dem Weihnachtsgottesdienst waren viele am Strand spazierengegangen, und dann kam die Killer-Welle. "Sie war wie ein riesiges Ungeheuer, 15 Meter hoch", schildern uns die Überlebenden ihre Erlebnisse. Die Wellen waren schneller, als ein Mensch laufen kann. Inzwischen sind die meisten Leichen vergraben oder verbrannt. Am Strand brennen noch fünf Feuer.

Viele Überlebende haben aber noch immer eine solche Angst vor Nachbeben, daß sie sich weigern zurückzukommen. Sie campieren in Zelten, Tempeln und Schulen einige Kilometer im Landesinnern. "Wir wollen nie wieder direkt am Meer leben", sagen sie in unsere Kamera. Vor allem die Kinder weigern sich zurückzukehren. Wohin auch?

150 freiwillige Helfer der katholischen Jugend haben zusammen mit einer Hindu-Hilfsorganisation aus Bangalore die Leichen eingesammelt. Sie suchen noch immer nach Vermißten. Abends beten sie gemeinsam in der Wallfahrtskirche Maria Hilf für die Toten.

Helfer und Hilfsorganisationen berichten uns, daß die Zahl der Opfer dreimal so groß sei als die offiziellen Zahlen der Regierung. Bischoff Remigius, der in dieser Diözese beheimatet ist, sagt uns, daß er alle seine Verwandten verloren habe. Kurz bevor wir mit ihm sprechen, hatte er erfahren, daß die Leiche seiner letzten Nichte geborgen wurde. Das Haus des Bischofs ist voll von Menschen, die Trost und Hilfe suchen. Uns beeindruckt die Ruhe und Gefaßtheit dieses Mannes in dieser Situation.

"Die Menschen fragen mich jetzt oft, warum diese Tragödie gerade hier und gerade an Weihnachten geschah", erzählt uns der Bischof. "Was antworten Sie Ihnen?" will ich wissen. "Daß Jesus geboren wurde, ist ein Grund zur Freude. Aber gerade er hat uns vorgelebt bis zu seinem Tod am Kreuz, daß zum Leben auch das Leid und der Tod gehören." Die Inder verdrängen den Tod weniger als wir Europäer. In einem Land, in dem täglich 5.000 bis 7.000 Menschen verhungern, gehört er zum Alltag.

Wir sehen am Strand von Südindien Kinder, die zu Waisen wurden, und Eltern, die ihre Kinder verloren haben. Noch immer suchen verzweifelte Eltern auch jetzt noch nach ihren Kindern. Die dreijährige Tochter von Alagarzamy fragt eine Woche nach der Katastrophe noch immer: "Wo ist meine Mama?" "Ich weiß nicht, was ich meinem Kind sagen soll", seufzt der Vater.

So nah am Elend drängt sich mir die Frage auf, ob die fernen Industriegesellschaften sich für diese neue Herausforderung öffnen werden.

Foto: Tsunami-Opfer Alagarzamy: Zwei Töchter konnte er retten, seine Frau und die jüngste Tochter sind tot

 

Dr. Franz Alt ist Journalist und Buchautor. Er leitete das ARD-Magazin "Report", danach präsentierte er bis zur Pensionierung 2003 das 3sat-Magazin "Grenzenlos". Die ARD-Sendung "Report" zeigt am 10. Januar 2005 eine Reportage von Franz Alt über die Flut-Tragödie in Indien. Internet: www.sonnenseite.com 

Weitere Informationen im Internet unter www.andheri-hilfe.de . Andheri-Hilfe Bonn e.V., Mackestraße 53, 53119 Bonn, Telefon: 02 28 / 67 15 86, Fax: 02 28 / 68 04 24, Andheri-Hilfe-Spendenkonto: 40 006, Sparkasse Bonn, BLZ 380 500 00 Stichwort: "Seebeben"


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen