© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/05 07. Januar 2005

Gott der Berserker und der Dichter
Mythologie: Der Arun-Verlag legt eine wissenschaftliche Würdigung des einäugigen Odin vor
Baal Müller

Die Humanbiologie der Gegenwart hat immerhin - man mag zur Frage der Gentechnik stehen, wie man will - dazu beigetragen, einige Lieblingsideologeme des soziologisch oder linguistisch argumentierenden Utopismus zu zerstören: darunter besonders das Dogma vom Geschlecht als gesellschaftlicher bzw. sprachlicher Konstruktion. Zwar leugnet niemand die ungeheure, von der Ethnologie ausgebreitete Vielfalt der Möglichkeiten, mit der Geschlechterdifferenz umzugehen, aber als Substrat jeder kulturellen Interpretation und Überformung muß die anthropologische Grundpolarität, so selbstverständlich, wie es dem "gesunden Menschenverstand" entspricht, immer schon vorausgesetzt werden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß es, wie der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann in seinem neuesten Werk über den "Männerbund" (JF 21/04) an dessen Beispiel dargestellt hat, doch gewisse "kulturelle Universalien" gibt, die in unterschiedlichsten Formen wiederkehren.

Eine Bestätigung seiner These unter dem Gesichtspunkt der vergleichenden Mythologie liefert die amerikanische Religionswissenschaftlerin Kris Kershaw in ihrer Untersuchung über "The One-eyed God - Odin and the (Indo-)Germanic Männerbünde", die im Jahr 2000 in der vom Institute for the Study of Man (Washington, D.C.) herausgegebenen Reihe Journal of the Indoeuropean Studies erschienen ist und nun auch in einer deutschen Ausgabe vom Arun-Verlag vorgelegt wurde. "Odin - Der einäugige Gott und die indogermanischen Männerbünde" nimmt, wie der Titel der Übersetzung ankündigt, zwei Aspekte des gemeinhin - in Analogie zum olympischen Zeus - als "Göttervater" angesehenen nordischen Hauptgottes in den Blick: seine Einäugigkeit und seinen Charakter als Anführer eines (mythischen) Männerbundes.

Odins Einäugigkeit wird in der Prosa-Edda des Snorri Sturluson bekanntlich damit erklärt, er habe, um Weisheit zu erlangen, einen Trunk aus Mimirs Brunnen genommen und dafür ein Auge als Pfand zurücklassen müssen; jedoch sind, wie Kershaw an vielen Beispielen ausführt, sowohl die poetischen und bildlichen Darstellungen als auch die historiographischen Beschreibungen, etwa von Saxo Grammaticus, diesbezüglich recht widersprüchlich: Manchmal wird Odin einäugig (und dennoch sehr scharfsichtig), an anderen Stellen mit zwei Augen dargestellt, manchmal wird er sogar als blind oder halbblind bezeichnet, und oft ist von einer Besonderheit hinsichtlich seines Augenlichts überhaupt keine Rede.

Auch sonst ist sein Wesen sehr vielschichtig und ambivalent: Er thront in Walhall, wo er die Einherier, die gefallenen Helden, um sich versammelt, die beim Ragnarök unter seiner Führung in die letzte Schlacht ziehen werden, und er mußte sich mit einem Schatz aus der Gewalt eines Riesen loskaufen, dessen Sohn - in Gestalt eines Otters - Loki durch einen Steinwurf getötet hatte. Er unterzieht sich nach dem Rúnatál der Lieder-Edda, neun Nächte in der Weltesche Yggdrasil hängend, einem schamanischen Selbstopfer, um den Dichtermet zu erringen, und gewinnt den begehrten Trank nach einer Erzählung der Snorra Edda als diebischer Liebhaber. Er spendet sowohl die gewalttätige als auch die dichterische Ekstase, ist ein Gott der Krieger und Berserker, der Dichter und Seher, der Könige und - als Sturmgott Wotan und Herr der Wilden Jagd - der friedlosen Toten, ein Hochgott germanisch-frühmittelalterlicher Kultur sowie ein finsterer Dämon nomadisierender Wildbeutergesellschaften.

Der Autorin gelingt es, diese zahlreichen, aus sehr unterschiedlichen Überlieferungssträngen stammenden Fäden zu entwirren, indem sie erstens konsequent zwischen den verhältnismäßig späten, größtenteils lange nach Annahme des Christentums in Island - um das Jahr 1000 - entstandenen Niederschriften des alten Sagengutes und der ihm zugrunde liegenden, vom Verfasser der Prosa-Edda möglicherweise kaum noch verstandenen oralen und performativen Tradition unterscheidet und diese letztere - insbesondere Maskenfeste, rituelle Umzüge und Waffentänze - in einen breiten indoeuropäischen Kontext einordnet. Dabei kann sie, gestützt auf eine beeindruckende Fülle verarbeiteten Materials, vielerlei Entsprechungen zu den zentralen Aspekten und Attributen Odins bei zahlreichen indogermanischen Völkern aufweisen.

Bereits die interpretatio Romana, die vor allem in Tacitus' "Germania" formuliert wurde, hat solche Gemeinsamkeiten gesehen und zum Beispiel Wotan, der gewöhnlich als südgermanisches Analogon Odins gilt, mit Merkur identifiziert. Die moderne komparative Mythologie, wie sie Kris Kershaw in ihrem Werk entfaltet, weiß freilich, daß sich aufgrund des unterschiedlichen "poetischen Geistes" der Völker sowie der fragmentarischen Überlieferungssituation eine unmittelbare Gleichsetzung der Götter verschiedener Sprach- und Kulturräume verbietet; wohl aber finden sich überall ähnliche Attribute, Rituale und Sozialformen bestimmten archetypischen Göttergestalten zugeordnet: Odin ist wie Hermes oder der indische Rudra ein Totengott, wie Mars, Quirinus, Indra oder der westslawische Svantovit ein kriegerisch-männerbündischer Gott, des weiteren ein Gott der Inspiration wie die iranischen Mithra und Aesma; er besitzt wie Zeus Lykaios oder Apollon wölfische Züge und ist, darin dem Mars, Apoll und anderen vergleichbar, ein Gott der männlichen Jugend sowie der den Übergang in die Altersklasse der Erwachsenen markierenden Rituale.

Rekonstruiert der erste Teil des Buches unter dem Titel "Herjann" - ein Beiname Odins, der sich auf seine Eigenschaft als Anführer eines Heeres, nämlich der Einherier, bezieht - im Anschluß an die Forschungen Otto Höflers vorwiegend die germanische Überlieferung, so ordnet der zweite Teil, der dem Männerbund als soziokultureller Institution gewidmet ist, diese in den indoeuropäischen Kontext ein, untersucht den "Veratyr" (Männergott) im Vergleich mit seinen interkulturellen Vettern, um schließlich im dritten eine besonders archaische Männergemeinschaft, die altindischen "Vratyas" gesondert zu behandeln.

Diese "Eid-Bruderschaft" von "Krieger-Brahmanen" oder "Krieger-Ekstatikern", die Kershaw besonders dem Kult des Rudra zuordnet und mit den Jünglingsverbänden vergleicht, die im germanischen Raum etwa die irdischen Repräsentanten von Wotans Wilder Jagd bildeten, liefern der Autorin den Schlüssel zu Odins Einäugigkeit. Sie findet ihn in einem Ritual, das sie in Anknüpfung an Harry Falks indologisches Standardwerk "Bruderschaft und Würfelspiel" rekonstruiert: Bei diesem mit den Nüssen des Vibhidaka-Baumes gespielten Spiel wird durch abwechselndes Wegnehmen von Nüssen der Anführer einer Vratya-Gruppe ermittelt; es ist derjenige, der nur eine Nuß übrigbehält, welche dem einäugigen und hundegestaltigen Kali - als einem Aspekt Rudras - geweiht ist; wer diese Nuß behält, ist in einem rituellen Sinne tot; er ist, da der Hund gleich Wolf und Pferd zu den bevorzugten indogermanischen Totentieren gehört, gleichsam "auf den Hund gekommen".

Von hier aus liefert die Autorin überraschende Erklärungen für mancherlei Redensarten und Bezeichnungen - "Augen" für die Punkte des Würfels - und schlägt eine Brücke zu Tacitus' Äußerungen über die Spielleidenschaft der Germanen, hinter der sich nach ihrer Auffassung uraltes gemeinschaftlich-indoeuropäisches Brauchtum verbirgt.

Ebenso ist der beim Würfelspiel rituell Getötete auch wie Odin ein Herr der Toten, eine Art Seelenführer (psychopompos) und Fruchtbarkeitsgott, insofern totenkultische Bräuche die Ernten des folgenden Jahres sichern sollten. Auch hier zeigt sich die eigentümliche Verbindung von Tod und Leben bzw. Fruchtbarkeit, die Kershaw für die zum Teil bis in die Gegenwart gepflegten Sitten der Jahreskreisfeste konstatiert: Gerade die Jünglinge eines Stammes oder Dorfes repräsentieren, etwa in den Rauhnächten und oft mit Pferde- oder Hundemasken verkleidet, die Ahnen, die man sich ungeachtet des Alters, in dem sie verstarben, offenbar nur in ewiger Jugend vorstellte, da sie schließlich, wie Kershaw etwas vereinfachend sagt, nun nicht mehr altern und sterben können oder - ein wenig unter Rekurs auf die Lebensphilosophie des zwanzigsten Jahrhunderts gesprochen - da sie in den überindividuellen "Lebensstrom" zurückgetaucht sind.

Indes hält sich die Autorin mit metaphysischen Spekulationen sehr zurück; sie erweckt, trotz des leidenschaftlichen Interesses für ihren Forschungsgegenstand, nirgends den Eindruck, daß es ihr um mehr als eine wissenschaftliche Rekonstruktion der germanischen Religion ginge.

Aufgrund der stets vom Faktenmaterial ausgehenden Beweisführung und der oft längeren etymologischen Exkurse richtet sich ihr Werk in erster Linie an Fachwissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen, etwa an Germanisten, Nordisten, Religionswissenschaftler oder Ethnologen. Um so mehr ist ihm auch in der wachsenden Szene von Neuheiden und Asatru-Anhängern - möglichst anstelle manchen beliebig-privatesoterischen Schmökers über Runenmagie - eine weite Verbreitung zu wünschen.

Wotan/Odin (Holzstich nach einer Zeichnung von Ludwig Burger, 1825-1884): Herr der Wilden Jagd

Kris Kershaw: Odin - Der einäugige Gott und die indogermanischen Männerbünde. Arun-Verlag, Engerda 2004, 312 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 29,95 Euro.


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