© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/05 14. Januar 2005

Irdisches Vergnügen in Gott
Nach dem Seebeben wird eine bohrende Diskussion über das Wesen der Natur geführt
Günter Zehm

Das gewaltige Seebeben im Indischen Ozean mit seinen verheerenden Tsunamis hat viele Zeitgenossen in schlimme Zweifel gestürzt, die Natur betreffend. Was soll man von ihr halten? Ist sie unser, der Menschen, Feind? Ist sie grausam, blindwütig, zerstörerisch? Müssen wir sie zähmen, einhegen, in Dienst stellen, um überleben zu können? Oder müssen wir uns ihr sklavisch anpassen, ja, unterwerfen ohne Wenn und Aber?

Die Fragen sind nicht neu, und sie brechen immer wieder auf, wenn sogenannte Naturkatastrophen über uns kommen, für die wir nichts können: Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge, Sturmfluten, Tornados, Dürreperioden, Seuchen. Die einen fragen dann: "Wie kann Gott so etwas zulassen?" Die anderen aber sagen: "Mit Gott hat das nichts zu tun. Es ist vielmehr die Natur, die sich an uns rächt, weil wir Gott und nicht ihr folgen. Die Natur ist das schlechthin Unmoralische, also absolut Böse. Wir müssen vor ihr unablässig auf der Hut sein, das ist das Mindeste."

Bald freilich kehrt der Sonnenschein zurück und mit ihm "paradiesische" Naturzustände, besonders an südlichen Stränden. Da sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Die Natur wärmt uns, erquickt unsere Sinne, beflügelt unseren Geist. Wir geraten in lyrische Stimmung, preisen die Natur als Vorhof Gottes und als Medium allerhöchster Aufklärung. "Aufklärung heißt der Weg, den die Natur uns weiset; / Wir streben hin zu Gott, den jedes Wesen preiset." So dichtete im Jahre 1727 Barthold Heinrich Brockes, der Hamburger Senator und unverbesserliche Naturpoet, und das Buch, das er derart volldichtete, hieß bezeichnenderweise "Irdisches Vergnügen in Gott".

Reich des Bösen - irdisches Vergnügen in Gott: in dieser Spannung steht unser Verhältnis zur Natur, stand es von Anfang an und wird es wohl immer stehen. "Natur", lateinisch natura, griechisch physis, bedeutete stets zweierlei, einmal das "Entstehen" insgesamt und überhaupt, die Schöpferkraft an sich und ihre Hervorbringungen, zum anderen den "Gegenentwurf" zum Bestehenden und gut Eingerichteten, das Chaos, das "Apeiron" in uns und außer uns, die dunklen Antriebe, die vom Verstand, vom "Licht der Vernunft", erhellt und in die Reihe gebracht werden müssen, wenn anständiges menschliches Miteinander möglich sein soll.

Lange bevor der Begriff der Natur geprägt war, wußte die Urhorde bereits von diesem Doppelcharakter. "Draußen" und "drinnen" in den Winkeln des eigenen Körpers walteten mächtige, existenzerhaltende wie zerstörerische Kräfte, die man respektieren und anbeten, denen man aber auch mit List und Mut begegnen mußte. Die Institution des Opfers schloß beide Verhaltensweisen ein. Man gab, um zu erhalten. Man unterdrückte oder therapierte den "inneren Schweinehund", um fit für den Überlebenskampf zu bleiben. Für Naturbegeisterung um ihrer selbst willen, für Lyrik, blieb wenig Platz.

Am Beginn der Neuzeit, mit der sogenannten "technischen Revolution", breitete sich eine kalt kalkulierende, gleichsam militärische Einstellung gegenüber der Natur aus. Es galt jetzt, wie zum Beispiel Francis Bacon oder René Descartes propagierten, der Natur "die Zähne zu ziehen" und sie in den Schwitzkasten des Experiments zu nehmen, einerlei ob es sich dabei um Gesteinsproben, Tiere oder "primitive" Menschen handelte.

"Versuchsanordnungen" wurden eingerichtet, um der Natur "ihre Geheimnisse zu entreißen". Die "innere Natur", die Welt der Gefühle und individuellen Empfindungen, wurde verhöhnt oder geradezu perhorresziert. Für den wahren gentleman gab es nur noch Algebra und Geometrie. Die "äußere Natur", soweit man ihrer habhaft wurde, verwandelte sich in bloße Nutzmasse, oder sie mutierte (siehe damalige Gärten und Parkanlagen) zu "schönen" Rechenbrettern und "ästhetisch befriedigenden" geometrischen Figuren.

Die Reaktion darauf konnte nicht ausbleiben, und sie brach sich ab dem 18. Jahrhundert in immer neuen Schüben machtvoll Bahn. Sturm und Drang, Rousseaus "Retour à la nature!", Geniekult und Romantik, "englische Gärten" und literarischer Lobpreis der "unberührten Natur", Wandervogel und Naturlyrik satt - alle diese Phänomene zielten auf eine Rehabilitierung der Natur "als Natur", d.h. man wollte sie nur noch in ihrer menschenfreien, artspezifisch optimierten Ursprünglichkeit sehen, jenseits jeglichen Verwertungsdenkens, als gerahmtes Bild in möglichst leuchtenden Farben.

Daß Bild und wirkliches Sein zwei völlig verschiedenen Dinge sind, ignorierte man weitgehend. Man verdrängte schlichtweg, daß wir uns - zusammen mit der übrigen Welt des Lebendigen - auf einer hauchdünnen, noch dazu in einzelne Platten zerstückelten Erdschale bewegen, unterhalb deren glutheiße Lava brodelt und jederzeit zu brüllendem Ausbruch drängt, während sich die Platten unaufhörlich ineinander schieben, sich zu Gebirgen auftürmen oder auf riesigen Breiten einfach abbrechen, dabei phasenweise alles Leben brutal vernichtend.

Man verdrängte auch, daß das Leben selbst ein permanenter Vernichtungsprozeß ist, wo das unerbittliche Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens regiert und wo letztlich Parasiten, Pilze und sonstige Zersetzer die Herrschaft behalten, welche alles andere als ansehnlich sind und jedes ästhetische Gemüt tief frustrieren.

Kommentatoren der jetzigen Tsunamis im Indischen Ozean versuchten, ihr Kitschbild von der farbenreinen Natur zu retten, indem sie darauf hinwiesen, daß zwar viele Menschen, dagegen aber "kaum Tiere" zu Tode gekommen seien. Die Tiere verfügten offenbar, im Gegensatz zu uns "aus der Natur ausgestiegenen" Menschen, über einen inneren Sinn, der sie vor gewaltsamen Natursprüngen warne und vor ihnen rechtzeitig die Flucht ergreifen lasse. "Zurück zur Natur!" bleibe also die einzig heilbringenden Devise.

Man übersah dabei allerdings, daß es genau solche Naturkatastrophen wie jetzt die südostasiatischen Tsunamis waren, die immer wieder ganze Tierpopulationen zum Verschwinden brachten. Organische und anorganische Mächte in der Natur sind sich keineswegs vorab freundlich gesinnt, im Gegenteil, die Erdgeschichte ist, bei Lichte betrachtet, ein riesiger Friedhof der Tier- und Pflanzenarten, und die "Mörder" kamen, soweit wir zu wissen glauben, meistens aus der Welt des Anorganischen: Erdbeben, dramatische Klimawechsel, Meteoriteneinschläge usw.

Es bleibt dabei: Die tellurischen wie die kosmischen Gewalten, von uns "Natur" genannt, tragen alle ein Janusgesicht, streuen Tod wie Leben aus. Gott mußte sie in die Welt lassen, damit überhaupt Welt, Schiedlichkeit, Differenz, entstehen konnte, aber von göttlicher Gerechtigkeit ist bei ihnen keine Spur. Mit ihnen zu hadern, ist sinnlos. Es kommt nach wie vor darauf an, ihnen mit List und Mut zu begegnen, sie anzustaunen, sie zu studieren und sich, wenn nötig und so gut es geht, gegen sie zu wappnen.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen