© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/05 21. Januar 2005

Der stumme Schrei
Wie sich eine Gesellschaft mit dem Massenmord an ungeborenen Kindern arrangiert
Bernd-Thomas Ramb

Die Predigt des Kölner Erzbischofs Kardinal Meisner zum Dreikönigstag hat für einen kurzen Augenblick die Öffentlichkeit bewegt. Weniger weil Meisner in seiner Predigt den heutigen Massenmord an ungeborenen Kindern anprangerte, sondern weil in seiner Aufzählung von historischen Beispielen, die auf die gleiche Ursache wie das jetzige Verbrechen zurückzuführen sind, der Name Hitler fiel. Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, beeilte sich seiner Entrüstung Ausdruck zu verleihen, Abtreibungen mit dem Holocaust an den Juden unter Hitler zu vergleichen, beleidige Millionen jüdische Opfer. Kardinal Meisner hat das zwar nicht getan, sich aber trotzdem für seine dieses Mißverständnis ermöglichende Formulierung entschuldigt.

Die Grünen-Chefin Claudia Roth wirft Kardinal Meisner sogar vor, nicht nur die Holocaust-Opfer beleidigt zu haben, sondern auch die Frauen, die sich in einer schwierigen existentiellen Notsituation befänden. Roth nennt also die Holocaust-Opfer in gleichem Atemzug mit Frauen, die eine Abtreibung haben vornehmen lassen - was Spiegel noch weniger recht sein dürfte. Noch einen Schritt weiter geht das ökumenische Netzwerk Initiative Kirche von unten, das Meisner "beleidigende und volksverhetzende Äußerungen" vorwirft, die dem christlich-jüdischen Dialog großen Schaden zufügten. Ein Nachrichtenmagazin weist fürsorglich darauf hin, daß der Kindermord des Herodes (der im übrigen im klassischen Sinne kein Jude war) historisch nicht belegt sei.

Ringsum passiert viel und Heftiges, um die Feststellung Kardinal Meisners anhand von herausgerissenen und fehlinterpretierten Details herabzuwürdigen. Abgelenkt wird dabei vom Kernsatz der Meisnerschen Klage: "Wo der Mensch sich nicht relativieren und eingrenzen läßt, dort verfehlt er sich immer am Leben." Daß er dies am Beispiel der Abtreibungsverbrechen verdeutlicht, muß die Befürworter der Abtreibung zwangsläufig in Rage versetzen. Insofern ist die Reaktion der Grünen noch die verständlichste. Abtreibung, im politisch korrekten Deutsch verharmlosend als Schwangerschaftsabbruch bezeichnet (wie ein Leistungsversuch im Sport), ist und bleibt jedoch ein Tötungsdelikt und ein Gesetzesbruch, im Volksmund: Verbrechen.

Daran ändert auch nichts, daß die Abtreibung seit 1995 nicht mehr grundsätzlich strafbar, sondern nach bescheinigter Beratung eine Tötung des ungeborenen Kindes möglich ist, ohne juristisch dafür bestraft zu werden. Daß dennoch eine gesetzeswidrige Tat begangen wird, ist dem Täterkreis nicht mehr einsichtig. Abtreibung erscheint juristisch erlaubt. Die religiöse Einordnung als Todsünde mit Bestrafung durch ewige Verdammnis in der Hölle spielt in einer zunehmend säkularisierten Welt eine immer geringere Rolle. Allenfalls wird die psychische Schädigung, insbesondere der jüngeren Frauen unter 26 und der erstmals Schwangeren, als "Bestrafung" empfunden.

Ein Gesetz, das nicht mehr strafbewehrt ist, kann nicht wirken. Das mußte nicht erst durch die Abtreibungsregelung erneut bewiesen werden. Die sprunghafte Zunahme der Abtreibungszahlen seit 1995 belegt dies im erdrückenden Maße. Dies ist nicht nur auf die teilweise Aufdeckung der vorherigen Dunkelziffern zurückzuführen. Ein von 1993 bis 1995 sinkender Trend wurde in eine auf höherem Niveau steigende Kurve von Kindestötungen gewandelt.

Die Gesamtzahl der von 1993 bis 2003 statistisch erfaßten Abtreibungen beträgt 1.364.804 Kinder. Selbst wenn die nicht unerhebliche Zahl der nicht gemeldeten Abtreibungen unberücksichtigt bleibt, die Bezeichnung "Massentötung" ist angebracht. Perspektivisch erschütternd ist zudem der Anstieg der Abtreibungen bei Frauen unter 26 Jahren, deren Zahl von jährlich 36.300 zu Beginn des neuen Gesetzes auf zuletzt über 46.500 gestiegen ist. Das sind in den gesamten letzten zehn Jahren über 400.000 traumatisierte Frauen, die möglicherweise nie wieder eine Schwangerschaft befürworten.

Als Ursache dieser schockierenden Entwicklung sieht Kardinal Meisner die fehlende Relativierung und Eingrenzung der Menschen. Gemeint ist damit nicht eine Bevormundung durch eng gezogene Gesetze, obwohl auch die letztlich vonnöten sind. Gedacht ist in erster Linie an eine innere und letztlich selbstverantwortete Bindung des Individuums.

Ein katholischer Bischof kann deren Basis verständlicherweise nur im christlichen Glauben sehen, und so ist Meisners Anklage im Kern eine Klage über der Verlust christlicher Werte in der Gesellschaft. Die Achtung Gottes und seiner Gebote als Nukleus der Organisation menschlichen Zusammenlebens erscheint der "modernen" "freiheitlichen" Gesellschaft jedoch als antiquiert oder "fundamentalistisch", wobei letzteres - richtig verstanden - aus der christlichen Sicht genau so gemeint ist.

Beim Wort "fundamentalistisch" in Zusammenhang mit Religion und Staat denken viele an das Schreckensbild des islamistischen Allmachtsstaates. Das Christentum zeichnet sich jedoch im Gegensatz zum Islam gerade durch eine größtmögliche "Staatslosigkeit" aus. Nur Gott und seinen Geboten verantwortlich, ist der Mensch frei von zusätzlicher staatlicher Bevormundung. Dies gilt nicht nur für die ideellen, sondern auch für die materiellen Freiräume. So stiftet das heutzutage so schnell kritisierte System der Marktwirtschaft gerade auf der christlich-liberalen Ordnungsbasis das größte Ausmaß an Wohlfahrt. Die vorgeblich aufklärerisch wirkende Säkularisierung der Staatsordnung, die zuletzt in dem Entwurf einer Europäischen Verfassung ohne Gottesbezug oder einen Hinweis auf die christlich-abendländischen Wurzeln Europas ihren Niederschlag findet, hat jedoch der Gesellschaft diesen Freiraum verbaut.

Die Menschen sind allerdings keinesfalls so ungebunden, wie es aus Kardinal Meisners Predigt herausklingen mag. Eingrenzungen sind nützlich und erwünscht. Wo alte Eingrenzungsregeln fallen, werden neue geschaffen. Die neue Religion heißt "Sozialismus" und der neue Gott "Ego". Jeder will für sich das Maximale, und der Sozialstaat hat dafür zu sorgen. "Mein Bauch gehört mir", riefen damals die Achtundsechziger, die heute dazu die Gesetze machen. Der Bauch- und Jetztzeitbezug erklärt nicht nur die horrende Staatsverschuldung zu Lasten der kommenden Generationen, sondern auch die mangelnde Achtung vor dem künftigen Leben und die zunehmend Mißachtung lästiger Alter und möglicherweise Behinderter, deren kostspieliges Dasein durch "Sterbehilfe" verkürzt oder durch Embryoselektion und Spätabtreibungen verhindert werden soll. Das moderne Massentöten weitet seine Dimensionen aus.


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