© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/05 21. Januar 2005

Bürger entscheiden über Kinderbetreuung
Sachsen-Anhalt: Linkes Bündnis setzt Volksentscheid durch / Land verfügt über umfangreichstes Versorgungssystem in Deutschland
Ellen Kositza

Mag die in der vergangenen Woche vorgestellte Umfrage zum deutschen Gebärstreik (siehe Seite 10) auch ein weiteres Indiz gegen die Behauptung liefern, daß es die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf sei, die Paare von (weiterem) Nachwuchs absehen läßt - die Klage über fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten ist in aller Munde. In Sachsen-Anhalt ist sie in den vergangenen Wochen geradezu Top-Thema geworden, denn im für kommenden Sonntag anberaumten Volksentscheid steht eine Revision des geltenden Kinderförderungsgesetzes zur Debatte. 2003 wurde hier der bundesweit einzigartige Anspruch auf außerhäusliche Ganztagsbetreuung für Kinder arbeitsloser oder nicht erwerbstätiger Eltern abgeschafft. Aufgrund dessen hatte das "Bündnis für ein kinder- und jugendfreundliches Sachsen-Anhalt" mit der PDS, der SPD und dem DGB als Gründungsmitgliedern ein Volksbegehren initiiert, das zu einer Erneuerung des Gesetzes führen soll. Über 260.000 Unterschriften kamen zusammen. Der nun folgende Volksentscheid - der erste in der Geschichte des Landes - gilt als angenommen, wenn mindestens ein Viertel aller Wahlberechtigten zustimmt, erforderlich wären hierzu 500.000 Stimmen.

Nun verfügt Sachsen-Anhalt bereits mit dem geltenden Gesetz über das umfangreichste institutionelle Betreuungssystem in Deutschland; es ist das einzige Bundesland, das einen Rechtsanspruch auf Betreuung in Krippen, Kindergärten und Horten von Geburt an bis zum 14. Lebensjahr gewährleistet - aus westlicher Sicht geradezu paradiesische Zustände. 48 Prozent aller Kinder bis zum Alter von drei Jahren besuchen eine Krippe - in den alten Bundesländern sind es im Durchschnitt sieben Prozent, ähnliches gilt für Horte, und selbst an Kindergartenplätzen besteht dort vielerorts ein Mangel. Eltern, die aufgrund ihrer Ausbildung oder Erwerbstätigkeit daran gehindert sind, sich selbst dem Nachwuchs zu widmen, können in Sachsen-Anhalt täglich bis zu zehn Stunden außerfamiliärer Betreuung (auch bei Tagesmüttern) in Anspruch nehmen.

Die fünf Stunden Betreuungszeit, die Familien mit einem Elternteil zu Hause zugestanden wird, sind dem Bündnis zu wenig, es gehe um das "Recht der Kinder auf Kultur und Bildung", unabhängig vom sozialen Stand und der Beschäftigungssituation der Familie, heißt es. Das Bündnis fordert außerdem einen starren Personalschlüssel an ausgebildeten Erziehungskräften - auch die Tagesmutter-Alternative würde hier wegfallen - sowie Bauvorschriften, die keine Ausnahme vorsehen. Beides dürfte für manchen Dorfkindergarten das Aus bedeuten.

Die Fronten sind klar und tendieren zur ideologischen Verhärtung. Gegen das Reformvorhaben operieren neben den Regierungsparteien der katholische Familienverband des Bistums Magdeburg sowie die kleine, als ultrakonservativ diskreditierte Bürgerinitiative "Nein beim Volksentscheid", die Kindererziehung als "ureigenste und wichtigste Aufgabe von Eltern" definieren und den bestehenden fünfstündigen Rechtsanspruch für Erwerbslose auch mit dem Hinweis, das in der Nachmittagsbetreuung ohnehin das freie Spiel dominiere, für ausreichend halten.

Für einen Eklat sorgten die verschickten Abstimmungsberechtigungen, die einen Hinweis auf das Thema der Abstimmung vermissen ließen. Strittig bleibt, ob hierfür das Land oder die Kommunen verantwortlich sind.

Sollte beim Volksentscheid zugunsten des Alternativgesetzes gestimmt werden, stehen dem Land über 40 Millionen, den Kommunen weitere 20 Millionen Euro Mehrkosten ins Haus, die laut Sozialminister Gerry Kley (FDP) bei den freiwilligen Leistungen des Landes in den Sparten Kultur, Umwelt, Behindertenfürsorge sowie bei Frauenhäusern und der Sportförderung gekürzt werden müßten.

Ministerpräsident fürchtet Mehrausgaben für das Land

Kley übrigens, dies wieder ein Beweis für den ironiefreien Charme dieses Bundeslandes, gibt folgende Empfehlung für den Tag der Wahl: "Am besten fände ich es, wenn die Familien den Sonntag auch dazu nützen würden, Kinder zu machen."

Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) befürchtet, daß ein Erfolg des Volksentscheids Schule machen könnte und sich somit häufiger Partikularinteressen gegen das Gemeinwohl durchsetzen würden: "Am Ende geht das dann aber nicht mehr auf, weil sich das Geld ja nicht vermehrt." Schon heute muß Sachsen-Anhalt jährlich rund eine Milliarde Euro allein an Zinsen tilgen.


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