© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/05 28. Januar 2005

Neue Anreize für Einwanderer
EU: "Grünbuch" für mehr Zuwanderung / Brüssel will einheitlichen Rechtsrahmen für Wirtschaftsmigranten
Martin Schmidt

Die Antworten führender deutscher wie EU-Politiker auf die Herausforderungen des demo-graphischen Wandels in Europa wirken hilflos, ja kopflos. Sofern es überhaupt Pläne zur Abschwächung der drohenden Vergreisung gibt, bestehen sie bestenfalls aus hastig angelegten familien- und sozialpolitischen Maßnahmen - und der Forderung, die "demographische Lücke" mittels mehr oder weniger geregelter Zuwanderung aus nichteuropäischen Ländern zu schließen.

Wie das von Brüssel aus gesehen wird, veranschaulicht das am 11. Januar von der EU-Kommission vorgelegte "Grünbuch" zur sogenannten Wirtschaftsmigration. Das von den neuen EU-Kommissaren für Inneres bzw. Arbeit und Soziales, dem italienischen Ex-Innenminister Franco Frattini und dem tschechischen Ex-Premier Vladimír Spidla, vorgestellte Papier soll Eckpunkte vereinheitlichter EU-Aufnahmeverfahren für "wirtschaftlich motivierte Zuwanderer" abstecken.

Es wird jetzt dem Europäischen Rat, dem EU-Sozialausschuß und anderen Institutionen zur näheren Auseinandersetzung übermittelt und soll die Grundlage bilden für einen bis Ende 2005 angestrebten "strategischen Plan zur legalen Einwanderung". Im Juli diesen Jahres soll dann eine große EU-Anhörung zum Thema Zuwanderung stattfinden.

Erklärter Hintergrund des Maßnahmenkatalogs sind Berechnungen der EU-Kommission, wonach innerhalb der Union die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 2010 und 2030 um etwa 20 Millionen zurückgeht. Entsprechend groß dürfte die Nachfrage der Arbeitsmärkte nach Fachkräften werden, die die Brüsseler Bürokraten einzig durch eine kontinuierliche Zuwanderung befriedigen zu können glauben. Denn Arbeitsmigration sei ein "ganz natürlicher Prozeß", den es nur "optimal zu managen" gelte, meinte der Sozialdemokrat Spidla. Der zu Silvio Berlusconis rechtsliberaler Forza Italia gehörende Frattini forderte sogar eine "positive Einstellung gegenüber Wirtschaftsmigranten", die "in Europa künftig nicht mehr als Bedrohung, sondern als Chance gesehen werden" sollten. Denn die wahren Bedrohungen für europäische Arbeitskräfte, das behaupten jedenfalls die Verfasser des Grünbuches, seien die illegale Zuwanderung und die Schwarzarbeit.

Im "Grünbuch" wird für Gastarbeiter aus Drittländern, die sich mehr als drei Monate in einem EU-Mitgliedsstaat aufhalten, ein EU-Standardantragsverfahren für eine kombinierte Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung vorgeschlagen. Dieses solle Arbeitsmigranten in Bereichen, in denen es keine geeigneten einheimischen Bewerber gebe, hinsichtlich grundlegender wirtschaftlicher und sozialer Rechte mit EU-Bürgern gleichstellen und damit ausreichend Anreize für eine Niederlassung in der EU bieten. Allerdings bliebe die Aufenthaltsgenehmigung laut "Grünbuch" an die Tätigkeit in bestimmten Orten oder Unternehmen gebunden. Nur das Ausmaß der Zuwanderung solle in Zukunft der Entscheidung der nationalen Regierungen vorbehalten bleiben.

Als noch zu diskutierende Punkte nennt die Studie unter anderem die Problematik, wie Personen mit befristetem Arbeitsvertrag nach Vertragsende zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer bewogen werden können und ob man das europäische Zuwanderungsrecht nicht besser auf bestimmte Einwanderergruppen begrenzen sollte (sprich solche, die voraussichtlich halbwegs "kompatibel" mit den soziokulturellen Verhältnissen in Europa sind). Außerdem wird gefragt, ob bereits auf dem Kontinent wohnenden Migranten eine Vorrangstellung einzuräumen sei und ob man die Mobilität der Zuwanderer innerhalb der Union beschränken solle.

Erhebliche Bedeutung komme überdies der Diskussion darüber zu, ob die Erteilung der kombinierten "Arbeits-/Aufenthaltsgenehmigungen" zwingend von einem bestimmten Stellenangebot abhängig zu machen sei oder ob - nach dem Muster der US-amerikanischen "Green Card" - feste Kontingente das Ziel sein sollten.

Letzteres kann sich nicht nur EU-Innenkommissar Frattini vorstellen, es dürfte vor allem nach dem Geschmack der weltweit tätigen Konzerne sein, für die derartige Regelungen ein Instrument darstellen, die Arbeitnehmer der einzelnen Nationen stetig unter Druck zu setzen und damit nicht zuletzt ihre Löhne herabzudrücken und die Beschäftigungsbedingungen zu ihren Gunsten zu verändern.

Denn leider zeigen so manche heutige Konzernchefs ebenso wie europäische und deutsche Spitzenpolitiker wenig Gespür für die durch die Zuwanderungswellen der vergangenen Jahrzehnte bereits extrem angespannte soziale Lage in etlichen EU-Mitgliedsstaaten. Jede weitere Migration aus außereuropäischen Ländern, ob legal oder illegal, könnte das Faß zum Überlaufen bringen. Wieviel muß nach den jüngsten ethno-religiösen Ausschreitungen in den Niederlanden eigentlich noch passieren, bis sich die Mächtigen Europas zur Vermeidung des Schlimmsten auf radikale familien-, bildungs- und steuerpolitische Kursänderungen besinnen und den multikulturellen Visionen eine Absage erteilen?

Hinzu kommt: Bislang gab es unter den Millionen nichteuropäischen Einwandern nur einen extrem geringen Anteil von qualifizierten Arbeitskräften, mehrheitlich erfolgte - speziell in Deutschland und den mitteleuropäischen Sozialstaaten - eine Einwanderung in die Sozialsysteme. Auch die geplante EU-Erweiterung scheint noch nicht voll erfaßt worden zu sein: Allein für den Fall einer Freizügigkeit für Türken geht die in Ankara ansässige Statistikbehörde DIE laut aktuellen Befragungen von einem Zustrom von 2,7 Millionen Türken in den ersten 15 Jahren nach dem EU-Beitritt aus.

Schon mit dem Beitritt Rumänien, Bulgarien und Kroatiens 2007/2008 kommen über 37 Millionen neue EU-Bürger hinzu - aus Ländern mit zweistelligen Arbeitslosenquoten. Auch über den Beitritt des 50-Millionen-Landes Ukraine und sogar Marokkos wird diskutiert - wenn angesichts dessen im "Grünbuch" trotzdem nach mehr Zuwanderung aus nichteuropäischen Ländern gerufen wird, sollte allein das an der Seriosität desselben Zweifel aufkommen lassen.


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