© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/05 28. Januar 2005

Essen, ohne nachzudenken
Grüne Woche: Die Besucher lassen sich von Hartz IV oder Dioxin nicht den Appetit verderben
Steffen Königer

Alle Jahre wieder drängen sich nach Jahresbeginn Zehntausende auf den Gängen der Messe Berlin. Die Internationale Grüne Woche, in diesem Jahr vom 21. bis zum 30. Januar geöffnet, ist trotz Hartz IV, Flutwelle, Dioxinskandal und zwölf Euro Eintritt immer noch ein echter Publikumsmagnet. Die Veranstalter hoffen wie im letzten Jahr insgesamt auf eine halbe Million Besucher. Bis Sonntag präsentieren sich Aussteller aus 55 Ländern - 1.158 aus Deutschland und 478 aus dem Ausland.

Erstmals ist die Sparte "Wellness Plus" in Halle 26b mit dabei, eine "Wohlfühlmesse für Körper und Seele", wie es ihm für einen Euro zu kaufenden Prospekt heißt. Bereits nach dem ersten Wochenende haben die 70. Auflage der weltgrößten Schau der Agrar- und Ernährungsindustrie über 120.000 Menschen gesehen, ähnlich viele wie im Vorjahr, so der Veranstalter Messe Berlin.

Ein wenig stutzig wird der Besucher wohl in den unteren Ebenen der Halle 7, in denen es ausschließlich Brodelbäder, Fertigsaunen und Wintergärten zu bestaunen gibt, während einem die Staubsauger und Dampfreiniger lautstark und unaufgefordert vorgeführt werden. Wo einer steht und lauscht, bildet sich gleich ein Stau. So kann man ungewollt zum 437. Mal erfahren, daß Glasscheiben eben nur mit diesem Reinigungsmittel völlig klar werden.

In der Halle 3 erweckt auf der zweiten Ebene "Talking Food - Jugend Is(s)t aufgeklärt" Aufmerksamkeit. Dahinter steckt die Domäne Dahlem, die seit Mitte der siebziger Jahre mitten in Berlin ökologischen Landbau betreibt. Mit Unterstützung des Berliner Senats ist dies auch heute noch möglich.

Auf die Frage, ob sich der Dioxinskandal auf der Messe bemerkbar machte, winkt Geschäftsführer Burkhardt Sonnenstuhl gegenüber der JUNGEN FREIHEIT ab. "Die Leute lassen sich auch nicht mehr in jedes Bockshorn jagen." Auch am Eierstand der Centralen Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft (CMA) Fehlanzeige.

"Nicht mal ein Prozent fragt nach Dioxinproblemen", so eine Standbetreuerin. Dabei schreckte noch vor einer Woche die Boulevard-Presse ihre Leser mit der Meldung auf, nicht nur in Freiland-, sondern auch in Eiern von Käfighennen seien erhöhte Dioxin-Werte gefunden worden. Rinderwahn und BSE sind aber auch schon vergessen.

Beim Weitergehen, was sich in Anbetracht der Menschenmassen als nicht leicht herausstellt, trifft man auf einen 400 Quadratmeter großen Stand: McDonald's klärt auf, warum die Kinder doch lieber beim großen "M" speisen sollten. Vor einer großen Leinwand wird jeder, der sich setzen möchte, mit "Ich liebe es" berieselt und kann sich überzeugen lassen, daß BigMäc & Co. doch nicht dick machen.

Der Rundgang in den Länderhallen zeigt, daß sich Brandenburg nicht nur durch seine geographische Nähe zu Berlin auszeichnet: Die Halle ist die ansprechendste. Am vergangenen Montag eröffnete allerhand politische Prominenz den "Brandenburgtag". So war es nicht verwunderlich, daß die Weinstände der Nachbarhallen etwas verwaist wirkten. Dicht an dicht drängen sich in Halle 22b die Weinstände, was etwas kühl wirkt.

Internationaler wird es wieder ab Halle 18. Das Schöne ist, das bei solchen Messen die Politik mal beiseite gelassen wird und der Stand der Islamischen Republik Iran keine 20 Meter von dem Israels entfernt ist.

Zu guter Letzt, noch bevor man mit abgelaufenen Schuhen den Rundgang beendet und doch noch vielleicht den einen oder anderen Gutschein eines Weinguts aufgedrückt bekommt, stolpern einem doch um kurz nach fünf Uhr nachmittags die ersten Schnapsleichen über den Weg. In Berlin ist bei der Grünen Woche alles beim alten geblieben, von Rezession keine Spur.


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