© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/05 28. Januar 2005

Das große Schachspiel
Geopolitik: In einer Welt im Übergang wird die ungeliebte Disziplin nachgerade unverzichtbar
Alain de Benoist

Die Geopolitik ist stets das Stiefkind unter den Gesellschaftswissenschaften gewesen. In Frankreich hat man sie verachtungsvoll als science allemande, als "deutsche Wissenschaft" bezeichnet, was nicht allzuviel heißen will. Probleme hat aber vor allem die Definition ihres Status oder ihres Anwendungsbereiches bereitet. Geopolitik untersucht den Einfluß der Geographie auf Politik und Geschichte oder anders gesagt: das Verhältnis zwischen Raum und Macht. Doch diese Definition bleibt schwammig, und deshalb läßt sich schon die Realität ihres Gegenstandes anfechten.

So ist Geopolitik oft als Disziplin beschrieben worden, die darauf zielt, historische Ereignisse oder politische Entscheidung retrospektiv zu rechtfertigen: Angeblich ist sie nichts als ein künstliches Konstrukt, das auf Interpretationen ex eventu aufbaut. Diese Kritik wurde dadurch bestärkt, daß die Geopolitik häufig im Dunstkreis der politischen Macht gedieh (auch wenn sie ihr in Wirklichkeit selten als Inspiration gedient hat).

Des weiteren wird der Geopolitik Determinismus vorgeworfen. Geopolitik basiert auf einer Reihe von Konstanten, die an den Begriff des "Bodens" gebunden sind und anhand derer sie verschiedene räumliche Kausalzusammenhänge sichtbar zu machen versucht. Ist aber "Boden" immer ein bestimmender Faktor? Frankreich, um nur dieses Beispiel zu nennen, war zunächst unter geopolitischen Gesichtspunkten äußerst unwahrscheinlich, was seine Entstehung keineswegs verhinderte.

Davon einmal abgesehen, hat die Welt sich seither verändert. Das Zeitalter der großen Eroberungen rein territorialer Art ist vorbei: Heute ist es wichtiger, den Raum zu organisieren, als ihn zu erobern oder auszuweiten. Die Eroberung eines Gebietes ist zudem nur eine von vielen Arten der Eroberung. "Jeder Raum hat politische Bedeutung", lehrte Friedrich Ratzel, dessen "Politische Geographie" (1897) als Gründungstext der Disziplin gilt. Jedoch hat Raum nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher. Wir leben in einer Welt, in der Grenzen nichts mehr aufhalten, geschweige denn sichern.

Dennoch hat Geopolitik nach wie vor ihren Nutzen. Ja, sie wird nachgerade unverzichtbar in einer Welt im Übergang, in einem Moment, in dem alle Karten auf globaler Ebene neu verteilt werden. Geopolitik relativiert das Gewicht bloßer ideologischer Faktoren, die per definitionem stets in Bewegung sind, und ruft die Existenz von Konstanten ins Gedächtnis, die die Regime wie die Ideen transzendieren. Vom Rassismus geblendet, griff Hitler Rußland an, eine Kontinentalmacht, während er sich mit Großbritannien, einer Seemacht, gerne verbündet hätte: ein schönes Beispiel dafür, wie die Ideologie eine völlige geopolitische Blindheit bewirkt.

Heute läßt sich ein ähnlicher Widerspruch zwischen geopolitischer Logik und dem Begriff der "Zivilisationen" feststellen. Immer wieder ist von einem "Krieg der Zivilisationen" die Rede, obwohl weder der Islam noch der Westen in irgendeiner Weise eine geopolitische Einheit darstellt.

Zu den am wenigsten anfechtbaren Begriffen der Geopolitik gehört zweifellos der Gegensatz zwischen Land und Meer. "Die Weltgeschichte", sagte Carl Schmitt, "ist eine Geschichte des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte." Derselben Meinung war auch Admiral Raoul Castex, 1932/35 und 1936/38 Kommandeur der Kriegsschule der französischen Marine, in seinen "Strategischen Theorien".

Die Erde ist der Ort unterschiedlicher Territorien. Sie erzwingt deutliche Unterscheidungen zwischen Krieg und Frieden, Kombattanten und Nicht-Kombattanten, Handel und politischem Handeln. Sie ist also der klassische Schauplatz der Politik und Geschichte. "Die politische Existenz ist von rein tellurischem Charakter" (Adriano Scianca). Das Meer ist eine uniforme Weite, die Negierung der Unterschiede und Grenzen. Es ist ein Raum ohne Kontraste, das flüssige Äquivalent der Wüste. Es hat keinen Mittelpunkt, sondern kennt nur Strömungen, und insofern gleicht es der postmodernen Globalisierung.

Die heutige Welt ist eine "flüssige", die alles abzuschaffen trachtet, was "geerdet", stabil, solide, konstant, unterscheidbar ist. Genauso wie die Logik des Kapitals besteht auch der Handel selbst aus Strömungen: Das Geld fließt hierhin und dorthin. Die Einförmigkeit, die Handel und Kapital hervorbringen, der Monotheismus des Marktes folgt der "maritimen" Logik, und nicht zufällig gleicht der Kapitalismus mehr als allem anderen der Piraterie.

In der Menschheitsgeschichte entspricht die Konfrontation zwischen Land und Meer dem jahrhundertealten Kampf zwischen der kontinentalen europäischen Ordnung und der "insularen" Ordnung, die zuerst die britische Seemacht und dann die USA verkörperten. Schon Schmitt stellte fest, daß "die heutige Technik der Verkehrs- und Nachrichtenmittel" aus dem Meer "einen Raum im heutigen Sinne des Wortes gemacht" habe. Das Meer sei kein Element mehr, sondern genauso wie die Luft "ein Kraftfeld menschlicher Energie, Aktivität und Leistung geworden".

Wie einst die Hegemonie Großbritanniens beruht die der Amerikaner auf der globalen Herrschaft über die Meere, die sich nun um die Herrschaft über den Luftraum erweitert, und auf der fehlenden Einheit des eurasischen Raums. Dies sind alte Konstellationen, aber sie kommen aktuell in weit größerem Ausmaß zum Tragen. Die Amerikaner haben die Briten an der Macht abgelöst. Europa insgesamt übernimmt die Rolle, die früher Deutschland zukam. Gleichzeitig geht das "große Schachspiel" wieder los, bei dem sich einst Großbritannien und Rußland gegenübersaßen, dessen wichtigste Figuren aber dieselben geblieben sind: Zentralasien, Mesopotamien, Iran und Afghanistan.

In der Vergangenheit schränkten geopolitische Konstanten vor allem die Staaten in ihrer Handlungsfreiheit ein. Zumindest in der westlichen Hemisphäre befinden sich diese mittlerweile in einer anscheinend irreversiblen Krise. Heute legt die Geopolitik kontinentale Zusammenhänge offen, die lange Zeit unter den ungeordneten Umtrieben der Staaten verschüttet blieben. Sie verhilft uns dazu, nicht mehr nationalstaatlich, sondern kontinental denken zu können.

Den alten Kampf Meer gegen Erde führen heute die USA gegen den "Rest der Welt", vor allem aber gegen den europäischen Kontinentalblock. Die Achse Madrid-Paris-Berlin-Moskau erhält aus dieser Perspektive ganz enorme Bedeutung, dasselbe gilt für die Achse Moskau-Teheran-Neu-Delhi. Der deutsch-russische Block liegt immer noch im Herzen der "Weltmitte". Das Schicksal der Welt hängt deshalb von der Verbündung dieser beiden Staaten ab. Auch hier hat der Untergang des sowjetischen Systems klare Fronten geschaffen. Alles andere entscheidet die unbekannte Variable China.


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