© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/05 04. Februar 2005

Das Allerletzte
Der Völkermord an den Armeniern wird ausgeblendet
Matthias Bäkermann

In der letzten Woche kommentierte der Berliner Publizist Henryk M. Broder den sechzigsten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslager Auschwitz im "heute-journal" des ZDF. Er zweifle, ob man in Deutschland Lehren aus dem Judenmord gezogen habe. Als Beispiel führte Broder die von Brandenburgs Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD) zu verantwortende Streichung des Armenier-Genozids aus den Lehrplänen an. "Ungeheuerlich. Das Allerletzte", erboste sich Broder über diesen schnöden Akt von Erinnerungskultur.

Mit der Kritik steht der streitbare Kommentator nicht alleine. So ist Platzeck auf bundesweiten Protest - auch durch Schawarsch Owassapian vom Zentralrat der Armenier in Deutschland - in die Defensive geraten. Natürlich werde der Genozid an den Armeniern weiterhin an brandenburgischen Schulen berücksichtigt, beschwichtigt der Politiker. Das Thema sei ihm wichtig. Das dokumentiere schon sein Engagement als Potsdamer Oberbürgermeister für die Errichtung des dortigen Lepsius-Hauses, was ihm sogar Morddrohungen türkischer Extremisten eingebracht hatte, beklagt Platzeck im Focus. Pfarrer Johannes Lepsius hatte vor mehr als achtzig Jahren maßgeblichen Anteil an der Aufdeckung und Verurteilung des Genozids türkischer Einheiten an den Armeniern 1915, bei dem schätzungsweise anderthalb Millionen Menschen ermordet wurden.

Im Potsdamer Ministerium gesteht man unterdessen zu, daß die Streichung "vom Verfahren her" ein Fehler war, wie Bildungsstaatssekretär Martin Gorholt einräumt. Neben dem fatalen Zeichen, in Zeiten einer Erinnerungsorgie an den Holocaust ausgerechnet ein anderes Jahrhundertverbrechen aus Lehrplänen zu tilgen, belastet die Regierung der Vorwurf, man habe diesen Schritt auf Veranlassung der Türkei vorgenommen. Denn mittlerweile ist bekanntgeworden, daß unmittelbar vor der Streichung der türkische Generalkonsul Aydin Durusay mit Platzeck und seinem parteilosen Bildungsminister Holger Rupprecht zu Abend gegessen hatte, wobei auch die vorausgegangene Beschwerde Ankaras an die Landesregierung erörtert wurde. In der Türkei ist die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern Staatsdoktrin. Personen, die diesen offiziell erwähnen, droht sogar Gefängnisstrafe. "Die türkische Seite hat sich darüber beschwert, daß an der entsprechenden Stelle nur der Genozid an den Armeniern als Beispiel für Völkermord erwähnt wird. Das ist vor zwei Jahren in den Rahmenlehrplan gerutscht, ohne daß ich davon wußte", entschuldigt sich Platzeck. 2002 hatte der damalige Bildungsminister Steffen Reiche die Ergänzung für den Geschichtslehrplan für die Klassen 9 und 10 im Themenfeld "Krieg - Technik - Zivilbevölkerung" initiiert. Diese Unterrichtsgestaltung unterblieb bisher - auch auf Druck türkischer Stellen - in allen anderen Bundesländern. Insofern offenbart die vielstimmige Kritik an den Potsdamer Zuständen auch ein bedeutendes Maß an Heuchelei. 


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