© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/05 11. Februar 2005

Mutter Natur und Vater Staat
Zwischen Montaigne und Tocqueville: Dem Ur-Soziologen Charles de Montesquieu zum 250. Todestag
Alain de Benoist

Heute kennen wir Charles de Montesquieu (1689-1755) vor allem als politischen Theoretiker, doch seine politische Theorie wurzelt in einer Gesellschaftslehre. In seiner 1892 in Bordeaux abgeschlossenen Doktorarbeit würdigt ihn der Soziologe Emile Durkheim als Vater seiner Disziplin, in dessen Schriften "zum ersten Mal die Grundprinzipien der Sozialwissenschaft etabliert wurden".

In "Der Geist der Gesetze", einem Werk, das sich kein geringeres Studienobjekt vornimmt als "die Gesetze, Gewohnheiten und die vielfältigen Bräuche aller Völker der Erde" sowie deren physische (Geographie, Temperatur, Klima) und moralische (Sitten, Glaubensbekenntnisse und Traditionen) Ursprünge, geht Montesquieu davon aus, daß die Gesellschaft ein Ganzes bilde und man das Recht niemals völlig von der Moral, die Politik von der Religion oder den Handel von der Wirtschaft abkoppeln könne. Er zeigt also, daß die Gesamtform einer Gesellschaft sich auf alle Bereiche gesellschaftlicher Existenz auswirkt.

Am bemerkenswertesten aber ist etwas, was man heute als seine Zurückweisung des Ethnozentrismus bezeichnen würde. Sei es in den "Persischen Briefen" (1721), die Goethe zu "den schönsten Denkmälern ihres Jahrhunderts und vielleicht aller Jahrhunderte" zählte, in den "Betrachtungen über die Ursachen der Größe und des Niedergangs der Römer" (1734) oder im "Geist der Gesetze" (1748), immer verlangt Montesquieu dem Leser eine für sein Zeitalter erstaunliche Anerkennung des Anderen ab.

Dies verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, daß sein Ansatz auf keinerlei religiöser Grundlage beruht. Die unterschiedlichen Gesellschaften seiner Zeit erforscht er nicht durch die Brille eines einheitlichen Menschenbildes, wie es die dogmatische Theologie definiert, sondern ihn interessieren die gesellschaftlichen Realitäten, die sich dem bloßen Auge des Beobachters darbieten.

Den Gegenständen seiner Betrachtung nähert er sich eher deskriptiv als moralisch, beschreibt, "was ist, und nicht, was sein soll". So stellt er fest, daß der Vielfalt der Gesetze und Institutionen eine Vielfalt der Menschen entspricht: Die Unterschiede zwischen den Völkern sind demnach von der Natur vorgegeben. Das verleitet ihn gewiß nicht dazu, alle Institutionen, die er studiert, auf die gleiche Stufe zu stellen. Es gestattet ihm vielmehr, jeweils den Kontext zu berücksichtigen, bevor er ein Urteil fällt, denn viele Bräuche, die sich von unseren unterscheiden, können in bestimmten Gesellschaften eine legitime Grundlage haben.

Daraus zieht er den Schluß, man solle sich im allgemeinen hüten, Regeln zu formulieren, die für alle Völker gelten. Montesquieu fordert den Gesetzgeber auf, sich nach dem seinem Volk eigenen Geist zu richten: "Besser würde man sagen, der Natur komme jene Regierung am nächsten, deren Besonderheit am besten auf die Besonderheit des Volkes bezogen ist, für das sie gedacht ist." Seinerseits machte er kein Hehl aus seiner Präferenz für die Monarchie, folgerte daraus jedoch nicht, daß sie die beste aller Regierungsformen sei. Genauso betonte er, Rom habe seine wahre Größe bewiesen, indem es den von ihm unterworfenen Völkern gestattete, nach ihren eigenen Gebräuchen zu leben.

Der Behauptung Ernst Cassirers zum Trotz, der ihm eine "Vorstellung von historischer Entwicklung" unterstellte, die sich mit der von der Aufklärung vertretenen Fortschrittslehre vergleichen lasse, versucht Montesquieu weder die Vielfalt der Völker auf irgendeine Universalität zu reduzieren, noch historische Ereignisse in eine übergreifende Entwicklung der menschlichen Gesellschaften einzufügen, die der Vorstellung eines linear verlaufenden Fortschritts entspräche. In dieser Hinsicht ist er kein "Geschichtsphilosoph", ein historistischer Denker, sondern eher schon ein Philosoph der Geschichten wie zu ihrer Zeit Herder und Vico.

Montesquieus berühmte, aber häufig mißverstandene Lehre von der Gewaltenteilung baut ihrerseits auf dem Prinzip auf, daß die unterschiedlichen Funktionen des Staates in unterschiedliche Hände gelegt werden müssen - nicht etwa, damit sie sich gegenseitig neutralisieren, sondern damit sie zugunsten aller besser miteinander wetteifern können.

Wenn man es recht bedenkt, versöhnt Montesquieu in seiner Person Michel de Montaigne, der wie er aus der Region um Bordeaux stammte, und den Normannen Alexis de Tocqueville, der sich bei ihm so viele Anregungen holte, daß er manchmal als "Montesquieu des 19. Jahrhunderts" (Jean-Jacques Chevallier) bezeichnet wird.

In "Über die Demokratie in Amerika" macht sich auch Tocqueville Gedanken über die Dialektik von Gesetz und Sitten. Wie Montesquieu lehnt er den Absolutismus ab, der mit der Unterdrückung von lokalen Freiheiten und Zwischenkörperschaften einhergeht. Schließlich interessiert auch er sich mehr für das "Wie" als für das "Warum" der Geschichte. In "Das Ancien Régime und die Revolution" etwa zeigt er, daß die Französische Revolution keineswegs einen radikalen Bruch mit der Tradition des Ancien Régime, sondern ihre Fortsetzung darstellte: Sie forcierte die administrative Zentralisierung auf Kosten der aus der Feudalzeit ererbten lokalen Autonomien; sie gestand der Nation im politischen Sinne des Begriffs dieselbe absolutistische Allmacht zu wie früher dem König (der Machthaber wechselte, die Macht selber blieb absolut).

Der unbestreitbare Unterschied zwischen Tocqueville und Montesquieu liegt jedoch in der Vorstellung, die sich beide von politischer Freiheit machen. Für letzteren, der sie als Idee germanischen Ursprungs verstand ("Unsere Vorväter, die Germanen, kriegerisch und frei" ist eine Formel, die in seinen Texten immer wieder auftaucht), ist die Bewahrung dieser Freiheit die Aufgabe von Institutionen: Die Bürger sind frei, wenn "maßvolle Regierungen" über sie herrschen. Für Tocqueville dagegen hängt die Freiheit auch von der "Tugend" der Bürger im aristotelischen Wortsinn ab.

Tocqueville befürwortet die Demokratie, begreift jedoch, daß sie nicht zwangsläufig vor sämtlichen Formen des Despotismus schützt. Das demokratische Zeitalter ist für ihn gekennzeichnet durch das Begehren nach materiellen Freuden, durch ein Trachten nach Gleichheit, das die Freiheit in Gefahr bringt, und vor allem durch eine neue Art von Konformität, die dem Einzelnen die Teilnahme am öffentlichen Leben madig zu machen droht. Mit anderen Worten, Tocqueville befürchtete, der Kult des Individuums könne den Bürger zerstören. Was er zu dem "Typ von Despotismus, den die Demokratien fürchten müssen" schrieb, erinnert an die Zeit der "letzten Menschen" bei Nietzsche. Montesquieu kündigt Tocqueville an, aber Tocqueville geht über ihn hinaus.

Bild: Charles de Montesquieu: Sah andere Völker mit dem bloßen Auge


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen