© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/05 11. Februar 2005

Im Niemalsland
Kino: "Wenn Träume fliegen lernen" von Marc Forster
Werner Olles

London 1903. Der erfolgsverwöhnte schottische Schriftsteller James Matthew Barrie (Johnny Depp) muß miterleben, wie sein jüngstes Theaterstück sowohl bei den Kritikern als auch beim Publikum durchfällt. Zunehmend gelangweilt von den immer gleichen vorgegebenen Themen, befindet er sich auf der Suche nach Inspiration in einer Schaffenskrise.

Beim täglichen Spaziergang mit seinem Bernhardiner Porthos macht er im Londoner Park Kensington Gardens die Bekanntschaft von vier Jungen und ihrer bezaubernden Mutter Sylvia Llewelyn Davies (Kate Winslet), die seit einem Jahr Witwe ist. Trotz der Vorbehalte seiner eigenen Frau (Radha Mitchell) und Sylvias abweisender Mutter Emma du Maurier (Julie Christie) setzt Barrie sich über alle sozialen Schranken hinweg und freundet sich mit der Familie an. Für die Jungen erschafft er das verwunschene, phantastische Traumreich "Neverland", und ihre Spiele und wachsende Zuneigung inspirieren ihn schließlich zu einem Stück, das ihn weltberühmt machen soll: "Peter Pan".

Doch während Barries Frau sich tief gekränkt in eine Affäre mit einem Schriftstellerkollegen stürzt und sich sogar scheiden läßt, und während die Premiere von "Peter Pan" zu einem riesigen Erfolg wird, bleibt seine Liebe zu der schönen Sylvia letztlich unausgesprochen und auch unerfüllt. Denn wie ihr verstorbener Mann ist auch sie unheilbar an Krebs erkrankt ...

"Wenn Träume fliegen lernen" beginnt mit einem durchaus romantisierenden Hymnus an das edwardianische London und endet trotz aller Widerstände mit einem bedingungslosen Bekenntnis zur alles egalisiernden Liebe. So mag manch einer Stil und Geschichte dieses Films altmodisch finden, doch weist die liebevoll genaue Beschreibung der handelnden Personen und die bei aller technischen Perfektion ganz unprätentiöse Machart über Routineprodukte amerikanischer Provenienz sympathisch hinaus.

Marc Forster ("Monster's Ball") erzählt eine melancholische Liebesgeschichte, die jedoch nie zur sentimentalen Romanze wird. Er erzählt sie mit einem bedächtigen epischen Atem, der ein realistisches Zeitgefühl aufkommen läßt und die Tragödie des Ausgangs um so wirksamer macht, je ruhiger sich ihre Entwicklung fortbewegt.

Dabei ist er ein großer Inszenator von Details, enthält sich jedoch in der Beschreibung seiner Protagonisten jedes Pathos, so daß der Zuschauer dank der glaubwürdigen Darstellung zutiefst an ihrem Schicksal Anteil nimmt. Und er findet immer wieder einprägsame, plastische Bilder für den Wechsel der Situationen. Während die "Neverland"-Imaginationen in sanft verschleierten Farben erscheinen, sind die zeitgenössischen Landschaftsgemälde und Genrebilder in gestochenen Brauntönen gehalten. Aber auch durch die Substanz seiner Geschichte gibt Forster der Kunst an dialektischem Hintersinn zurück, was er ihr an Form abgewinnt und für seine Zwecke variiert.

"Finding Neverland" - so der Originaltitel - ist aber auch ein Film der verhalten geführten großen Schauspieler, die sich hier in seltener Selbstverständlichkeit der Gesetzmäßigkeit der Handlung unterordnen. Allen voran Johnny Depp, den man seit "From Hell" nicht mehr so brillant agieren sah, Kate Winslets sinnliche Ausstrahlung kommt selbst dann noch zur Geltung, wenn sie von Husten- und Erstickungsanfällen gepeinigt darniederliegt, und mit so bewährten Stars wie Julie Christie und Dustin Hoffman zollt Forster der guten alten Tradition des Hollywood-Erzählkinos seinen Tribut, ohne dabei in Nostalgie zu verfallen.

Daß die Geschichte um den 1937 gestorbenen "Peter Pan"-Autor in Wirklichkeit ein wenig anders verlaufen ist, schadet dem Film nicht. Hundert Jahre nach der Welturaufführung des wohl berühmtesten Theaterstücks für Kinder am 27. Dezember 1904 entführt er uns vielmehr in eine Zeit, die für immer verschwunden ist: die Zeit der vollkommenen kindlichen Unschuld.

Foto: J.M. Barrie (Johnny Depp) sucht im Park nach Inspiration


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen