© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/05 18. Februar 2005

Ausdruck des Ewigen
Protestantismus: Vor 300 Jahren starb der Begründer des Pietismus, Philipp Jakob Spener
Wolfgang Saur

Die Zukunft des reformatorischen Glaubens scheint heute oft fraglich. Protestantische "Selbstsäkularisierung", vor allem die Transformation des Glaubens in Ethik und damit der Verlust seines Mysteriencharakters als Heilsreligion, entwertet die evangelischen Kirchen der Gegenwart zu sozialpolitischen Agenten und zivilreligiösen Moderatoren einer säkularen Kultur, die sich in horizontalen Relationen erschöpft, die Substanz des Menschen also nur mehr "gesellschaftlich" begreift. Sollte das protestantische Christentum, das in seiner repräsentativen Theologie des 20. Jahrhunderts es überhaupt ablehnte, "Religion" zu sein, in dieser Situation verharren, wird es aufgesogen und gesichtslos "integriert" werden. Es verschwände so endgültig aus dem religiösen Weltkreis.

Wohl den Verantwortlichen, daß sie Defizite benennen und umzusteuern bereit sind. Es gilt, rationalistische wie neuorthodoxe Fehlentwicklungen zu korrigieren. Evangelischer Glaube muß sich auf den universellen Gehalt der Offenbarung besinnen, aber auch die individuellen Formen seiner eigenen Tradition dankbar aufgreifen, bewahren diese doch lebendige Kräfte einer "inneren Geschichte" des Christentums, die Momente seiner wesentlichen Entfaltung.

Vor diesem Hintergrund entschied die EKD glücklich, Philipp Jakob Speners als "protestantischen Kirchenvaters" und des Pietismus als kardinaler Frömmigkeitsbewegung festlich zu gedenken. Drei Tage lang (4. bis 6. Februar) feierten Berliner und Auswärtige in Konzerten, Gottesdiensten und wissenschaftlichen Vortragsreihen den "Begründer des Pietismus" als denjenigen, der die Einlösung reformatorischer Kernanliegen, die Vertiefung des Glaubens und eine Erneuerung der Kirche im 17. Jahrhundert initiierte. Dieser protestantische Patriarch gilt nun bis auf Schleiermacher als wichtigster Kirchenmann und Schriftsteller der nachreformatorischen Jahrhunderte.

1635 zu Rappoltsweiler im Elsaß geboren, studierte Spener in Basel und Straßburg und begann dort seine wissenschaftliche Laufbahn. 1666 erhielt er einen Ruf aufs erste lutherische Pfarramt im reichsstädtischen Frankfurt. In den nachfolgenden 20 Jahren bewirkten Speners Initiativen dort einen ersten kirchlichen Wandel.

Das Mysterium muß sich in der Einzelseele wiederholen

Die nachlutherische Orthodoxie hatte eine autoritäre Pastorenkirche geschaffen, die theologisch auf rationale Systematisierung, konfessionelle Polemik und "reine Lehre" zielte, den Glauben per Katechismus oktroyierte und als Regulativ die "Kirchenzucht" anwandte. Damit ließ sich Abgrenzung zum Katholizismus, Ordnung nach innen und Kooperation mit den Landesherrn, also Einbau in den aufstrebenden Absolutismus, nicht aber lebendiger Glaube gewinnen. Auf die "Mauerkirche" und das "Maulchristentum" äußerlicher Kirchlichkeit, dürrer Rationalität und nivellierter Gemeinden hatten deshalb schon früh die "Spiritualisten" reagiert; sie fürchteten nicht zu Unrecht, die neue "Kirche" verrate das reformatorische Projekt. Spener hat deren Impulse aufgegriffen, aber seinem kirchlichen Reformwerk eingefügt. Er verkündete einen lebendigen Glauben, der nach innen und außen "praktisch" werden solle, rückte die Bibel ins Zentrum, entschärfte konfessionelle Polemik, forderte Entlastung der Predigten von gelehrtem Ballast und rhetorischem Schwulst und schuf sein nachmals legendäres collegium pietatis.

Diese erbauliche Runde in Privaträumen, außerhalb der öffentlichen Gottesdienste, wurde zur Keimzelle pietistischer Hauskreise, damit zur Aktivierung des Laienstands überhaupt. Laien trafen sich, Männer wie Frauen, zur Lektüre von Bibel und erbaulichen Schriften. Sie tauschten sich dort über den Glauben aus und teilten sich ihre frommen Gedanken und Empfindungen mit. Hier lag ein großes Potential informeller Religiosität, das nun Entfaltungsmöglichkeit erhielt und dessen kreative Energien bis heute fortwirken.

1675 faßte Spener seine Reformideen in der Programmschrift "Pia Desideria" zusammen, deren "herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung" begierig aufgenommen ward und heute wieder im In- und Ausland intensiv studiert wird. Mit dem Aufruf zur inneren Wandlung fokussiert Spener ein zentrales Anliegen des Pietismus und aller Mystik überhaupt: "Soll Gottes Ehre recht befördert werden, dann liegt alles daran, daß man zur rechten Bekehrung hinführt. Denn ein intellektueller Sieg und Überzeugtsein von der Wahrheit ist bei weitem noch nicht der Glaube." Religion, komplex und unbedingt, umgreift Theorie wie Praxis gleichermaßen. Die Wahrheit der Offenbarung erfüllt sich erst da, wo sie persönlich angenommen und existenziell realisiert wird. Wurzelt die Menschheit heilsgeschichtlich im Kreuz, so muß das Mysterium sich in der Einzelseele wiederholen. In Christo legt der Gläubige so den "alten Adam" ab, wird umgeschaffen, "neu geboren".

1686 erreichte Spener der Ruf ins höchste geistliche Amt des lutherischen Deutschland. Er wurde sächsischer Oberhofprediger in Dresden: Abendröte einer großen Tradition Sachsens als protestantischer Vormacht, bevor die Wettiner 1697 konvertierten.

Der prominenteste Theologe seiner Zeit

Spannungen mit dem Kurfürsten ließen ihn schnell resignieren, so daß er schon 1691 auf den minderen Posten eines Probstes von St. Nikolai und brandenburgischen Kirchenrats in Berlin wechselte. Preußen mit seiner zukünftigen Rolle im deutschen Protestantismus warf seinen Schatten voraus. Hier konzentrierte Spener sich nun ganz auf seine literarische Produktion. Die Unzahl von Büchern und Briefen, die er in alle Welt sandte, machte ihn zu dem prominentesten Theologen seiner Zeit. Diplomatisch geschickt betrieb er pietistische Personalpolitik, suchte Konflikte zu entschärfen, Anhänger zu mäßigen und Exilierte in Brandenburg zu integrieren.

Radikaler Glaube riskiert stets das Stigma des "Ketzertums"; auch der Pietismus hat seine eigene Verfolgungsgeschichte. Glücklich wirkte Spener mit bei der Gründung der Reformuniversität Halle 1694, wo seinem Schüler August Hermann Francke eine herausragende Rolle zukam. Als Spener 1705 starb, hatte er sich "ein Ansehen erworben wie kein zweiter Theologe nach Luther" (J. Wallmann).

St. Nikolai in Berlins mittelalterlichem Stadtkern, Speners Wirkungsstätte, ist eine spätgotische Hallenkirche. Breit fällt das Licht zwischen hohen Bündelpfeilern in den offenen Chor, weißes Mauerwerk umher mit kolorierten Gurtbögen und Kreuzrippen. Barocke Gedenktafeln und gravitätische Pastorenporträts verteilen sich an Wand und Säulen, darunter: Speners würdevolles Bildnis im schwarzen Talar.

Beim Festgottesdienst amtierten die Bischöfe jener Kirchen, in denen Spener wirkte: Elsaß (Marc Lienhard), Hessen-Nassau (Peter Steinacker), Sachsen (Jochen Bohl) und Berlin-Brandenburg in der Person des EKD-Ratsvorsitzenden, Wolfgang Huber. Der liturgisch überaus reich gestaltete Gottesdienst vereinigte Bibelwort, Orgelspiel, Solostimme und Instrumentalparts mit Spenermeditationen, Gemeindegesang und Festpredigt; es erklangen Bach und altprotestantisches Liedgut. Verhaltener Glanz und feierlicher Ernst, freier Geist und strenge Würde überraschten mit dem Blick auf die Symbolgestalt eines protestantischen Deutschland, das, seiner Tradition mächtig, im lebendigen Augenblick seine unverwechselbare Individualität als einzigartiger Ausdruck des Ewigen bezeugt.

Modernitätskritisch hat Schleiermacher einst gefragt: "Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehn; das Christentum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben?" Diese Entzweiung ward jetzt einmal exemplarisch aufgehoben: Wo sonst harmonieren Intellektualität und Frömmigkeit derart? Von täglichen Andachten umrahmt, verdichtete die Expertenrunde in 16 Vorträgen Speners Bild im Pietismus. Bedauerlich: Der erkrankte Festredner und "Pietismuspapst", Johannes Wallmann, fiel aus.

Dafür erscheint jetzt eben seine komprimierte Gesamtdarstellung des Pietismus. Erntete Vandenhoeck mit seiner monumentalen "Geschichte des Pietismus" (4 Bde., 1994-2004), dem umfassend neuen Standartwerk für Spezialisten, schon manchen Ruhm, tritt diesem nun Wallmanns so fundiertes wie handliches Kompendium zur Seite. Es darf aktuell als sachlich beste, auch literarisch gelungenste Monographie gelten. Der Autor blickt auf eine Fülle einschlägiger Publikationen zurück, er überschaut die Forschungsgeschichte wie kein zweiter. Das schlägt sich auch bibliographisch nieder und qualifiziert den Band als Handbuch.

Sieben Kapitel führen durch 200 Jahre bis ins pietistische Württemberg der Bengel und Oetinger. Ausführlich werden die Franckeschen Stiftungen als epochemachendes Sozialmodell und der Hallesche Pietismus als Humus einer "preußischen Staatsreligion" oder Zinsendorfs freikirchliche Brüdergemeinde, Mission und bizarre Symbolik erörtert. Wallmann konzentriert sich auf die komplexe Kerngestalt der Bewegung im 17. und 18. Jahrhundert und schöpft doch ihren ganzen Formenreichtum aus.

Der Pietismus wurde durch seinen spirituellen Impuls eine Frömmigkeitsbewegung und mit der Wendung zum biblischen Wort eine Bibelbewegung; er machte Ernst mit dem "Priestertum aller Gläubigen" und wurde so Laienbewegung; sein sozialer Impetus forderte "tätiges Christentum", was zur sozialen Bewegung führte; endlich schloß er sich an Mystik und Jakob Böhmes "Zentralschau", entwickelte heterodoxe Ideen und wandte sich mit Oetinger der "philosophia sacra" zu, was ihn dem Strom esoterischen Christentums einfügt.

Bild: Philipp Jakob Spener: Herzliches Verlangen nach Gottgefälligkeit

Johannes Wallmann: Der Pietismus. Vandenhoeck & Ruprecht (UTB 2598), Göttingen 2005, kartoniert, 244 Seiten, 12,90 Euro


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