© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/05 18. Februar 2005

Grundrecht am seidenen Faden
Ralf Rögers Untersuchung zur Demonstrationsfreiheit ist in der gegenwärtigen Verbotsdiskussion über NPD-Versammlungen hochaktuell
Georg Pfeiffer

Das Bundesverfassungsgericht gab sich liberal und hängte die Meinungsfreiheit ganz hoch: "Daß eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht schon dem Schutzbereich des Grundrechts. Geschützt ist ferner die Wahl des Ortes und der Zeit einer Äußerung." Das war 1995 in der sogenannten "Soldaten sind Mörder"-Entscheidung. Im Jahre 2001 akzeptierte das Gericht eine behördlich angeordnete Verschiebung einer Demonstration, die für den 27. Januar, den Holocaust-Gedenktag, geplant war und begründete das mit der "spezifischen Provokationswirkung", die von der Demonstration gerade an dem geplanten Veranstaltungstag ausgehe. In der Folge hob es mehrere Demonstrationsverbote, die das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht mit unterschiedlichen Begründungen bestätigt hatte, wieder auf. Ralf Röger, Professor für Öffentliches Recht an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Lübeck, zeichnet diesen Streit zwischen hohen und höchsten Richtern detailliert und auf wissenschaftlichem Niveau nach. Er skizziert zunächst die vorgelagerten Entscheidungen, den prozessualen Rahmen und referiert dann in gut lesbarer knapper Form den Streit anhand von sieben Entscheidungsketten mit den jeweils tragenden Gründen. Daran schließen sich eine systematische Analyse der eingebrachten Argumente und ein eigener Lösungsvorschlag an.

Die "Demonstrationsfreiheit" ist ein "komponiertes" Grundrecht, das auf dem Zusammenspiel von Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit beruht. Beide "Teilgrundrechte" sind in unterschiedlicher Weise beschränkt. Das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht versuchte zunächst, vorgeblich nationalsozialistische oder "neonazistische" Demonstrationen mit Hilfe "verfassungsimmanenter Schranken" aus dem Schutzbereich der Artikel 5 Absatz 1 (Meinungsfreiheit) und Artikel 8 (Versammlungsfreiheit) herauszudefinieren. Dem trat die 1. Kammer des Bundesverfassungsgerichts konsequent entgegen. "Verfassungsimmanente Schranken" wurden entwickelt, um schrankenlos garantierte Grundrechte wie zum Beispiel die Religionsfreiheit eingrenzen zu könne.

Für ein schon im Wortlaut klar beschränktes Grundrecht besteht keine Notwendigkeit - damit auch keine Zulässigkeit -, zusätzlich "verfassungsimmanente Schranken" heranzuziehen. Paragraph 15 des Versammlungsgesetzes erlaubt Demonstrationsverbote und die Erteilung von Auflagen, wenn die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet sind. Öffentliche Sicherheit und Ordnung sind aus dem Polizeirecht vertraute und in der Rechtsprechung einigermaßen klar umrissene Begriffe. Die öffentliche Sicherheit umfaßt den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit usw. sowie die Unversehrtheit der geschriebenen Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen. Die öffentliche Ordnung umfaßt dagegen die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung unerläßliche Voraussetzung für ein geordnetes Zusammenleben ist.

Soweit das Oberverwaltungsgericht Demonstrationsverbote mit Gefahren für die öffentliche Ordnung zu rechtfertigen sucht, tritt das Verfassungsgericht dem ebenfalls entgegen. Nach seinen Grundsätzen muß vor dem Erlaß eines Demonstrationsverbotes das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft werden. Angesichts der besonderen Bedeutung des Versammlungsrechts rechtfertigt eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung im allgemeinen weder ein Verbot noch deren Auflösung.

Weiterhin versuchten die Verwaltungsrichter, verfassungsfeindliche Äußerungen, verfassungsfeindliches Auftreten der Veranstalter und den Feiertagsschutz für das Verbot "rechtsradikaler" Demonstrationen heranzuziehen. Auch dem schob das Verfassungsgericht einen dreifachen Riegel vor. Meinungsäußerungen, die nicht strafrechtlich sanktioniert sind, dürfen auch nicht versammlungsrechtlich unterbunden werden. Auf die vorgebliche oder auch offene Verfassungsfeindlichkeit des Veranstalters kann ein Demonstrationsverbot nicht gestützt werden, solange sie nicht vom Verfassungsgericht festgestellt und der Veranstalter verboten ist. Wenn ein Feiertagsgesetz Demonstrationen für bestimmte Feiertage und bestimmte Zeiten untersagt, kann die Behörde außerhalb dieser Sperrzeiten kein Demonstrationsverbot auf den Feiertagsschutz gründen.

Alle angesprochenen Punkte sind in der Rechtsprechung und der Lehre umstritten. Das Buch verdeutlicht anschaulich, auf welch schmalem Grat sich das Verfassungsgericht bewegt, wie kompliziert das Geflecht der verschiedenen Verfassungsbestimmungen und einfachgesetzlichen Regelungen ist und welche Implikationen aus entlegenen Rechtsgebieten das Demonstrationsrecht aufweist. Für Juristen ist es ein ausgezeichnetes Repetitorium. Laien sollten aktuelle Ausgaben des Grundgesetzes und des Versammlungsgesetzes bei sich haben, um den Stoff und die Diskussion der Argumente nachzuvollziehen. Nach einer Definition dessen, was genau zum "Neonazi" oder "Rechtsextremisten" qualifiziert, sucht man angesichts des etwas reißerischen Titels vergebens.

Foto: NPD-Demonstration 2001 in Berlin: Vorgebliche Verfassungsfeindlichkeit kann ein Verbot nicht begründen

Ralf Röger: Demonstrationsfreiheit für Neonazis? Analyse des Streits zwischen BVerfG und OVG NRW und Versuch einer Aktivierung des Paragraphen 15 VersG als ehrenschützende Norm. Duncker & Humblot, Berlin 2004, 81 Seiten, broschiert, 36 Euro


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