© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/05 25. Februar 2005

Staaten haben Interessen, aber keine Freunde
Das Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 2004 analysiert politische und militärische Brennpunkte mit prominenten Beiträgern
Andreas Graudin

Ein Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik hat den Anspruch, weltweite Bedrohungslagen von kompetenten Experten kommentieren zu lassen, um ein möglichst vollständiges Bild der vielfältigen Bedrohungen des Weltfriedens zu zeichnen. Teilweise in englischer Sprache kommen profilierte, aber auch unbekannte Autoren zu Wort, darunter Russen, Israelis, Araber und Taiwan-Chinesen.

Die Aufsätze zum Krieg gegen den Terrorismus sind neben denen zur ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) klare Schwerpunkte des von Erich Reiter herausgegebenen Werkes. Den islamischen Fundamentalismus und die von ihm ausgehende strategische Bedrohung beleuchtet beispielhaft der Terrorismusexperte Berndt Georg Thamm. Sein kurzer aber sehr anschaulicher Abriß über Wurzeln und Struktur von al-Qaida erleichtert nicht nur den Einstieg in das Thema, sondern lädt mit umfangreichen Quellenhinweisen zur Vertiefung des Themas ein. "Die Quellen der Macht von al-Qaida" ist das Thema von Katharina von Knop. Die deutsche Politikwissenschaftlerin in Innsbruck widmet sich dabei ebenfalls den geistigen und organisatorischen Grundlagen der Terrororganisation Osama bin Ladens. Der aufschlußreiche Aufsatz ergänzt die informative Abhandlung Thamms, leidet aber - besonders bei den Überschriften - am überwunden geglaubten "Politologenchinesisch". Clausewitz hätte oftmals begrifflich ausgeholfen.

Das Jahrbuch versammelt mit Arnulf Baring und Herfried Münkler auch durchaus Prominenz. Münkler plädiert in seinem Beitrag "Terrorismus als neue Ermattungsstrategie" für eine "heroische Gelassenheit" im Umgang mit terroristischen Bedrohungen. Er hat recht, wenn er eine gewisse Resistenz gegen Panikmeldungen von Medien spürt, die terroristische Bedrohungslagen und Anschläge ab und zu dramaturgisch zur Quoten- und Auflagensteigerung nutzen. Kritisch wird es aber, wenn "heroische Gelassenheit" in Gleichgültigkeit umschlägt. "Heroische Gelassenheit" verkennt das Erfordernis dauerhafter Mobilisierung gegen den Terror und seine Wurzeln. Keiner will durch "Warnungen einen Erregtheitszustand (...) provozieren", allzu leicht schlägt aber in den informationsgesättigten westlichen Gesellschaften Gelassenheit erneut in Gleichgültigkeit um. Genau diese Gleichgültigkeit ist es, die wir alle uns nicht länger gegenüber militanten Islamisten erlauben können. Herfried Münkler wollte von (seinem) Gutmenschentum retten, was zu retten war. Ein Aufruf zu breiter Mobilisierung gegen einen zivilisatorischen Feind, einen totalen Gegner wäre hilfreicher und realistischer gewesen.

Der Beitrag Barings ist historisch in bezug auf die außenpolitischen Fehler der Nach-Bismarck-Ära nicht zu beanstanden. Mit Recht vertritt er die Auffassung, daß deutsche Außenpolitik nie wieder in Isolation führen darf. Richtig ist auch, daß Deutschland sich angesichts seiner zentralen Lage in Europa an eine stärkere Macht anlehnen muß. Frankreich ist, so Baring, "schwächer als Deutschland" und deshalb aus seiner Sicht ungeeignet für diese Partnerrolle. Er favorisiert dagegen die USA und warnt vor zu großem Vertrauen auf die europäischen Partner. Deren latenter Antagonismus zu Deutschland sei geeignet Deutschland ohne die USA in eine neue europäische Isolation zu treiben. Tatsächlich überwiegen trotz gemeinsamer Währung, der Erkenntnis eines christlich-abendländischen Grundkonsens und einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Union die Nationalinteressen. Man vermißt jedoch die Erörterung der strategischen Alternative: die Allianz Paris-Berlin-Moskau-Peking.

Baring gibt, an den Fakten vorbei, den Deutschen die Hauptschuld an der Zerrüttung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses. Kein Wort von der Interessenverlagerung der USA weg von Europa und hin nach Ostasien und den Mittleren Osten, und auch kein Wort zur Ignoranz der Bush-Administration gegenüber berechtigten europäischen Einwänden oder Sonderinteressen. Man kann in Barings Aufsatz den Aufruf hineininterpretieren: "Liebe Amerikaner, laßt uns mit diesen Europäern nicht allein". Daran ist richtig, daß deutsche Bündnispolitik immer Widerlager oder "Rückversicherungen" benötigt, um einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden. Diese Amerikaner werden aber auch nicht zögern, im Bedarfsfall europäische Verbündete gegen deutsche und gesamteuropäische Interessen zu instrumentalisieren. Allen Auflösungstendenzen nationaler Politik zum Trotz, zeigt auch das Jahrbuch für 2004 einmal mehr, daß Staaten Interessen, aber keine Freunde haben.

Aufmerksamkeit verdient weiterhin der Beitrag "Sicherheitspartner Türkei" von Lothar Rühl. Das Fragezeichen fehlt im Titel seines Aufsatzes und es ist auch nicht notwendig, solange sich diese Sicherheitspartnerschaft auf die Nato und nicht die ESVP bezieht. Diplomatisch verklausuliert macht Rühl deutlich, daß die Türkei für ein geeintes Europa nur als "externer Partner" in Betracht kommen kann. Er weist darauf hin, daß alle europäischen Modelle einer "Gegenmachtbildung" zu den USA in Ankara nicht unterstützt werden und mit der Türkei das Lager all jener gestärkt wird, die eine europäische Militärmacht nicht wünschen. Der strategische Wert der Türkei gerade auch im Kampf gegen den Terror wächst indessen beständig, weswegen Deutschland und Europa an einer eigenständigen strategischen Partnerschaft und privilegierten Beziehungen bis hin zur Assoziation der Türkei mit der EU interessiert sein müßte. Ob man in Ankara indessen vom Maximalziel der EU-Vollmitgliedschaft abrücken wird, solange diese von vielen europäischen Politiker befürwortet wird, bezweifelt allerdings auch Rühl. Ob Naher und Mittlerer Osten, der Kaukasus, Schwarzafrika oder auch Indiens oder Chinas künftige Rolle in der Welt, wer tiefer in sicherheits- oder geopolitische Gegenwartsfragen einsteigen will, findet im Handbuch für Sicherheitspolitik eine breite Auswahl an Hintergrundaufsätzen die vom analytischen Gehalt und ihrer Informationsfülle höchsten Ansprüchen genügen.

Foto: Maulana Fazlurahman, pakistanischer Fundamentalist, pflegt Kontakte zum Umfeld Osama bin Ladens und Mullah Ohmars: Eine "heroische Gelassenheit" im Umgang mit terroristischen Bedrohungen droht in Gleichgültigkeit umzuschlagen

Erich Reiter (Hrsg.): Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 2004. Verlag Mittler & Sohn, Hamburg 2004, 957 Seiten, gebunden, 39,90 Euro


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