© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/05 04. März 2005

Land der Schildbürger
Hysterisch geführte Scheindiskussionen lenken von den wahren Problemen ab
Doris Neujahr

Falls sich später jemand für die Debatten und politische Kultur der heutigen Bundesrepublik interes-siert, wird er sie als ein Land von Schildbürgern beschreiben. Als ein Land, in der Toren meinungsstark über Dinge reden, die sie nicht kennen und über die sie folglich nichts zu sagen haben. Selber sind sie ein Gespött, und dem Land fügen sie Schaden zu, indem sie den Blick auf seine Probleme verstellen.

Da hat der Papst in seinem neuen Buch "Erinnerung und Identität" (siehe auch Seite 11 dieser Ausgabe) über die Gefährdung von Gesellschaften reflektiert, die keinen Bezug zu Gott mehr haben, wo die Menschen sich selber an seine Stelle setzen und über Gut und Böse entscheiden, letztlich auch über Leben und Tod. So geschehen im Dritten Reich und in der Sowjetunion. Aber auch Demokratien laufen permanent Gefahr, dieser Hybris zu verfallen. Die sieht Johannes Paul II. am Werk, wenn die Freigabe der Abtreibung als "ziviler Fortschritt" gepriesen wird. Er wirft die Frage auf, ob in der Berufung auf die Menschenrechte unter Umständen nicht eine "neue Ideologie des Bösen am Werk ist". Das ist eine auch für Nichtkatholiken bedenkenswerte Kritik an naßforschen Fortschrittsideologien.

Weil solche Erörterungen für Vorab-meldungen der Agenturen zu kompliziert sind, wird daraus die Schlagzeile, der Papst habe die Abtreibung mit dem Holocaust "gleichgesetzt", diesen also "relativert". Wie auf Kommando werden die Plappermäuler und Moralsirenen aktiv: Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle sprach von einer "bestürzenden moralischen Fehlleistung" des Papstes und der grüne "Rechtsexperte" Volker Beck von einem Mangel an "moralischer und ethischer Orientierung". Und weil Johannes Paul II. der Ehe eine andere Qualität zuspricht als homosexuellen Verbindungen, warf er ihm gleich noch "Volksverhetzung" vor.

Der Aufstand des Schlamms gegen den Berg ist stets ein komischer Anblick - erst recht, wenn die Schlammpanscher sich als Gipelstürmer wähnen. Ist es ein Wunder, daß das Ansehen deutscher Politiker irgendwo zwischen Staubsaugervertretern und Trickbetrügern rangiert?

Leider ist auch Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf diesen Zug gesprungen. Er sagte, die Spitze der Katholischen Kirche habe nicht begriffen, daß es einen Unterschied gebe zwischen dem Holocaust und dem, "was Frauen mit ihrem Körper tun". So müßten die römische Kurie und die Deutsche Bischofskonferenz Nachhilfeunterricht in Geschichte und Morallehre bei ihm nehmen?

Spiegels Kompetenz dazu erscheint zweifelhaft angesichts des Halbsatzes zur Abtreibung: "Was Frauen mit ihrem Körper tun." So kann man reden, wenn Pamela Anderson ihre Brustimplantate wechselt, doch hier geht es um keimendes Leben, das gewaltsam beendet wird. Spiegel ist ein ehrenwerter Mann und als Präsident seiner Organisation verdient er, aus den bekannten historischen Gründen, einen gehörigen Vorschuß an Respekt, aber den muß er politisch-intellektuell auch rechtfertigen. Wer sich so dezidiert in öffentliche Diskussionen einmischt wie er, muß seine Äußerungen am Gegenstand messen lassen, dem sie gelten, und darf nicht darauf vertrauen, daß ihm dauerhaft ein Betroffenheitsrabatt gewährt wird. Der ist auch keineswegs ein Zeichen des Respekts, sondern der Instrumentalisierung seiner Person.

Als der Kölner Kardinal Meisner in einer Predigt im Januar einen Bogen schlug vom Kindermord zu Bethlehem über Hitler und Stalin zur aktuellen Massenabtreibung, bedauerte Spiegel, "daß ein katholischer Würdenträger (...) ungestraft den millionenfachen Mord an Juden relativieren kann". Kein Politiker sah sich aufgerufen, ihn vor sich selbst zu schützen und im Namen der Diskussions- und Meinungsfreiheit gegen die implizite Drohung zu protestieren, im Gegenteil.

Das kommt nicht von ungefähr. Das Vergleichsverbot, das über die NS-Verbrechen verhängt wurde, bedeutet in der gegenwärtigen Krise eine letzte Sicherheit und Orientierung, einen selbstgestrickten Glaubensersatz, auch für die politische Klasse. Die Blockade gesellschaftspolitischer Diskussionen ist den meisten Politikern recht, weil sie nichts beizutragen haben. Sie wissen, daß das bundesrepublikanische Erfolgsmodell an sein Ende gekommen ist, aber sie haben keine Vorstellung davon, was an seine Stelle treten soll.

Solange sie über Relativierer, Rechtsextreme und ähnliches nur tüchtig moralisieren, fällt es nicht auf, daß sie sich über Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, berstende Sozialsysteme, Parallelgesellschaften, über den demographischen Wandel und den Mezzogiorno in der Ex-DDR ausschweigen.

Man kann von einem Utopie-Ersatz oder einer Negativ-Utopie sprechen, in die die deutschen Funktionseliten sich flüchten. In dieser Utopie-Welt gelten nur absolute Kategorien, werden die Kinder des Lichts von denen der Finsternis geschieden. Daher der permanent überspannte, hysterische Tonfall in den deutschen Debatten.

Es gibt Anzeichen, daß die moralisierte Geschichte, parallel zur wachsenden Panik der politischen Klasse, in Zukunft noch stärker zur Repression genutzt wird. Dann haben wir Schilda total. Nur ganz so lustig wird es nicht zugehen.


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