© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/05 04. März 2005

Auf der Seite von Anstand und Moral
Visa-Affäre: Fischer nutzt seine Rede auf dem Parteitag der nordrhein-westfälischen Grünen zur Selbstinszenierung und zum Angriff auf den politischen Gegner
Paul Rosen

Angriff ist die beste Verteidigung. Diesen Grundsatz beherzigt auch der deutsche Außenminister. Joschka Fischer, durch die Visa-Affäre in Bedrängnis geraten, versuchte den Parteitag der nordrhein-westfälischen Grünen in Köln zu einer Selbstinszenierung zu nutzen. "Die können meinen Rücktritt fordern. Aber die Opposition soll endlich aufhören, ein ganzes Volk als kriminell zu stigmatisieren. Das ist moralisch unanständig. Die frierenden Studenten in Kiew haben auch für ein freies Europa gekämpft", so der Kommentar des Grünen-Politikers zu der Tatsache, daß durch laxe Kontrollen bei Visa-Anträgen vermutlich mehrere Millionen Menschen nicht nur aus der Ukraine als Kriminelle, Schwarzarbeiter und im schlimmsten Fall als Zwangsprostituierte nach Deutschland kamen beziehungsweise gebracht wurden.

Damit ist die Richtung klar. Die Grünen sind laut Fischer auf der Seite von Moral und Anstand, sympathisieren mit freiheitsliebenden frierenden Studenten, und die böse Opposition ist unmoralisch, unanständig und ausländerfeindlich. Mit einer geschickten, die Sinne vernebelnden Rhetorik bekannte sich Fischer zu seiner politischen Verantwortung für die lockere Handhabung bei den Visa-Kontrollen. Diese Verantwortung hat er als Minister ohnehin, und CDU-Chefin Angela Merkel hat mit Recht angemerkt, daß andere Minister schon aufgrund geringerer Vorfälle zurückgetreten sind.

Der Außenminister redete nur 20 Minuten

Mehrfach von Beifall unterbrochen, ließ Fischer in Köln dann noch wissen, durch zwei 1999 ergangene Erlasse sei das Instrument der Reiseschutzversicherung, die Ausländern Tür und Tor öffnete, "noch mißbrauchsanfälliger gemacht" worden. Er habe von 2000 bis 2002 "nicht schnell, nicht entschlossen und nicht umfassend genug" als verantwortlicher Minister gehandelt. "Das sind meine Fehler, die schiebe ich nicht ab", rief der Außenminister den Delegierten noch zu. Seine Partei hätte damit auch gar nichts zu tun. Die Partei war zufrieden und wollte auch nicht mehr hören. Eine ernsthafte Debatte wurde auf dem Parteitag erst gar nicht geführt.

Verräterisch war, daß Fischer nach 20 Minuten schon mit seiner Rede fertig war. Auf Details der Affäre, von denen einige schon bekannt sind, ging er erst gar nicht ein. Keinen Kommentar hatte er zu einem Urteil gegen einen Schleuser aus Nordrhein-Westfalen. Der Angeklagte hatte mildernde Umstände bekommen, weil der Richter zu dem Ergebnis kam, daß das Auswärtige Amt einen "kalten Putsch" gegen die geltende Rechtsordnung durchgeführt hätte. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe ähnlicher Urteile. Fischer sparte sich auch jeden Kommentar zu der Frage, wann er von den massiven Mißbräuchen bei der Einreise nach Deutschland erfahren hat. Warnungen gab es genug, vom Innenministerium, von Polizeibehörden und Botschaften. Angeblich wurden Beamte des Auswärtigen Amtes, die warnend ihre Stimme erhoben, sogar zwangsversetzt, weil die politische Leitungsebene des Ministeriums die Realität nicht hören wollte. Und Fischer soll von alledem nichts gewußt haben?

Es werden in den nächsten Wochen und Monaten zahlreiche weitere Details der Visa-Affäre ans Licht kommen. Schon heute ist klar, daß der Fall nicht auf die deutsche Botschaft in der Ukraine beschränkt war. Fast alle Botschaften auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR sind betroffen, außerdem deutsche Botschaften in afrikanischen Ländern. Mit jedem weiteren Vorgang, jeder belastenden Aussage eines Ministerialbeamten vor dem Untersuchungsausschuß wird die Stimmung im Volk für die Regierung problematischer.

Fischer selbst bekam das bereits zu spüren. In der Hitparade der beliebtesten Politiker stürzte er ab. Jetzt führt der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) die Liste an. Daß der Außenminister nicht mehr so beliebt ist, liegt einzig und allein daran, daß ihm bürgerliche Wähler und SPD-Anhänger die Sympathie entzogen haben. Die Grünen selbst haben wenig zu befürchten. Wie sagte Fischer doch in Köln: Die Grünen müßten sich für ihre Politik der Weltoffenheit nicht verstecken. Der Volmer-Erlaß paßt in die Ideologie der Partei vom multikulturellen Deutschland, das mit allen Mitteln geschaffen werden soll. Die Problematik für die nordrhein-westfälische Landtagswahl im Mai liegt woanders. Ein fast stabiles Grünen-Ergebnis hilft wenig, wenn die SPD im größten Bundesland in folge der Visa-Affäre abstürzen sollte. Viele sozialdemokratische Stammwähler dürften mit den Ereignissen in Kiew und anderen Botschaftsorten nicht einverstanden sein.

Die Wahl in NRW kann als offen bezeichnet werden

Der nordrhein-westfälische SPD-Vorsitzende Harald Schartau brachte das bereits auf den Punkt, als er sagte, Fischer sei in der Affäre "alles andere als überzeugend" gewesen. Schartau forderte "schnellstmögliche Aufklärung".

Eines haben die Veröffentlichungen über die Visa-Affäre und Fischer bereits bewirkt: Die Wahl in Nordrhein-Westfalen kann wieder als offen bezeichnet werden. Das größte Bundesland liegt wirtschaftlich weit hinten. Über eine Million Menschen sind in NRW arbeitslos. Die Stimmung im Volk, von den Regierenden als Stammtischgerede abgetan, ist eindeutig: Wer in NRW nachfragt, bekommt zu hören, daß Schwarzarbeiter massenhaft ins Land gelassen werden, während die Deutschen keine Arbeit mehr finden.

Dabei glaubten Ministerpräsident Peer Steinbrück, SPD und Grüne den Sieg bereits fest in der Tasche zu haben. Aber jetzt bekommt die CDU mit ihrem schwachen Spitzenkandidaten Jürgen Rüttgers Rückenwind aus Berlin. Für Rot-Grün beginnt die Zeit knapp zu werden. Den Untersuchungsausschuß können die Regierungsparteien nicht während des Wahlkampfes lahmlegen. Setzen neue Fakten und Unterlagen Fischer stärker unter Druck und verschlechtert sich die Stimmung weiter, wird Kanzler Gerhard Schröder ein Opfer bringen und Fischer entlassen müssen, falls dieser sich nicht vorher auf seine Verantwortung besinnt und zurücktritt. Politik kennt keine Freundschaften, und Solidaritätsbezeugungen selbst des Bundeskanzlers haben die Haltbarkeitsdauer eines Joghurtbechers.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen