© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/05 04. März 2005

Versuchter Rufmord
Literaturhistorie: Um den Schriftsteller Rolf Hochhuth ranken sich seit vierzig Jahren Auseinandersetzungen und Missverständnisse
Thorsten Thaler

Dem Schriftsteller und Dramatiker Rolf Hochhuth "geistige Brandstiftung" vorzuwerfen und ihn in die Nähe von Holocaust-Leugnern zu rücken, wie es der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, getan hat, ist nur bei vollständiger Unkenntnis des Œuvres von Hochhuth möglich.

Früher als viele andere - zumindest wirkmächtiger - hat er sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt und den Massenmord an Juden im Dritten Reich thematisiert; beginnend mit seinem Stück "Der Stellvertreter", das am 20. Februar 1963 unter der Regie von Erwin Piscator im Berliner Theater am Kurfürstendamm Premiere hatte und eine ausgesprochen heftige, noch heute nachwirkende Kontroverse auslöste, bis hin zu jüngsten Gedichten.

Wer will, kann in dem am 1. April 1931 im hessischen Eschwege als Sohn eines Schuhfabrikanten geborenen Rolf Hochhuth sogar einen der Begründer und Prediger jener spezifisch deutschen Vergangenheitsbewältigung sehen, die in ihrem Übermaß heute selbst zu einer bedrückenden Hypothek für die Gegenwart geworden ist - insbesondere für die Meinungsfreiheit.

Doch wie immer man über Hochhuths Werk und seine geschichtspolitischen Auffassungen denken mag (und zu kritisieren gibt es fürwahr genug), die jetzt gegen den 74jährigen Autor wegen seines Interviews mit dieser Zeitung (JF 08/05) erhobenen Vorwürfe entbehren jeder sachlichen Grundlage. Mehr noch: Sie kommen einem vorsätzlichen Rufmord gleich.

Erinnert sei nur an den Historiker Golo Mann, der Hochhuths "Stellvertreter"-Schauspiel am 17. September 1963 in den Basler Nachrichten bescheinigte, es gestalte "die menschliche Wirklichkeit des Judenmordes, der Mörder und der Opfer und der wenigen Helfer mit künstlerischen, typisierenden, idealisierenden Mitteln". Oder an den Heidelberger Philosophen Karl Jaspers, der im November 1963 im Rundfunk an die Adresse Hochhuths erklärte: "Mehr als alle Dokumentenbücher und Abbildungswerke vermochten Sie einzuprägen, was den Juden durch Entwurzelung, durch Demütigung, durch Qual und schließlich durch den Massenmord angetan worden ist."

Für die heutigen Anfeindungen gegen Hochhuth aufschlußreicher als die Kontroverse um den "Stellvertreter" ist aber jene um sein zweites, am 16. Oktober 1967 unter der Regie von Hans Schweikarts ebenfalls in Berlin (an der Freien Volksbühne) uraufgeführtes Theraterstück "Soldaten". Inspiriert von den Darstellungen des britischen Historikers David Irving über den Luftkrieg gegen deutsche Städte und ihre Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkrieges ("Und Deutschlands Städte starben nicht", 1963; "Der Untergang Dresdens", 1964), thematisierte Hochhuth in seinem Stück die Inhumanität und Unentschuldbarkeit vorsätzlicher Bombenangriffe auf Wehrlose, Unbeteiligte, nicht unmittelbar Kriegführende. Zugleich spürte er der Frage nach, warum der Zweite Weltkrieg "trotz seiner Notwendigkeit eine Tragödie war - eine Tragödie auch für die Sieger, auch für den Sieger Churchill", so der Historiker Sebastian Haffner im Oktober 1967 in der Zeitschrift Konkret.

Daß der Sohn des britischen Kriegspremiers, Randolph Churchill, daraufhin Hochhuth und Irving "verdammte Lügen" vorwarf (FAZ vom 21. Oktober 1967), die nur der Entlastung der Deutschen dienten, mag noch verständlich sein. Neben der Spur aber lagen Kritiker wie der 1940 in die USA emigrierte und später als Presseoffizier zurückgekehrte Hans Habe (eigtl.: János Békessy), der am 20. Oktober 1967 in der Zürcher Woche mit Blick auf Hochhuths Stück behauptete, hier wolle "ein Deutscher beweisen, daß die Alliierten nicht minder mies gewesen sind als die Hitler-Deutschen". Und die Neue Zürcher Zeitung attestierte Hochhuth am 10. Dezember 1967 gar, er bewege sich "in den Fußstapfen Goebbels".

Schon damals nutzten Hochhuth seine wiederholten Beteuerungen nicht, er sei ein großer Verehrer Churchills, des "Retters Westeuropas", wie er in einem langen Gespräch bekannte, das der Historiker und Publizist Wolfgang Venohr mit ihm und David Irving für die Wochenzeitung Die Zeit am 6. Oktober 1967 geführt hatte. Doch solche Einlassungen überhörten Hochhuths Kritiker geflissentlich. Die Parallelen zu heute sind nur allzu evident.

Wie sehr Hochhuth die Mißverständnisse, an denen er selbst nicht ganz unschuldig ist, beschäftigen, zeigt sich im Gespräch mit ihm. So verweist er dieser Tage bei jeder Gelegenheit auf ein Gedicht, das er erst im vergangenen Jahr anläßlich des 80. Todestages von Franz Kafka (1883-1924) veröffentlicht hat. Es erinnert an die drei Schwestern Kafkas, die in NS-Lagern ermordet wurden. Dem Gedicht vorangestellt sind die Namen und Opferzahlen von sechs nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka, Auschwitz und Majdanek.

Foto: Wolfgang Venohr (M.) 1967 im Gespräch mit Rolf Hochhuth (r.) und David Irving (l., verdeckt); rechtes Bild: Venohr (l.), Hochhuth (M.), Irving (r. hinten)

 

Mit der freundlichen Erlaubnis Rolf Hochhuths drucken wir dieses Gedicht hier nach.

 

Drei Schwestern Kafkas

Chelmno 152 000

Belzec 600 000

Sobibor 250 000

Treblinka 900 000

Auschwitz 1 Million

Majdanek 200 000

 

Liest man - als läse das noch wer!

Wir Deutsche haben allein aus Prag

100 000 deportiert ohne Wiederkehr

- so ist das Statistik: Niemand vermag

Sofern er mag, gesichtslose Zahlen,

sogar als Menschenzahl sich vorzustellen!

Wie Körner als einzelne, die zermahlen,

bleiben Menschen unsichtbar auf Tabellen.

Liest man jedoch, aber wer liest das noch!

vergast samt Familien Kafkas drei Schwestern,

"glücklich verheiratet" beschrieb die Mutter sie;

sieht Fotos - ist's, als sei man gestern

Ihnen begegnet, die wie Mann, Kinder nie,

noch in Hitlers Prag nicht, an Flucht gedacht ...

Milena, Kafkas Geliebte, da keine Jüdin nicht

vergast, wurde in Ravensbrück totgemacht.

 

Rolf Hochhuth (aus: Nietzsches Spazierstock, Rowohlt 2004)

Rolf Hochhuth: Nietzsches Spazierstock. Gedichte, Tragikomödie "Heil Hitler!", Prosa (2004); ders.: Alle Erzählungen, Gedichte und Romane. Mit einem Nachwort von Albert von Schirnding (2001). Beide Titel sind im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, erschienen.


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