© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/05 11. März 2005

Fiaker, Lavendelfrauen und Maronibrater
Historische Streifzüge durch die Phantasie: Die Ausstellung "Alt-Wien" spürt einem Mythos nach, der Touristen aus aller Welt anlockt
Ekkehard Schultz

Nicht erst in unseren Tagen scheint sich das Gesicht vieler Metropolen innerhalb einer immer kürzeren Zeit zu verändern. Für viele Menschen hat dieser Prozeß einen janusköpfigen Charakter: Einerseits ist der Wandel des städtischen Raumes eine dringende Notwendigkeit, da Stillstand als Stagnation empfunden und mit dem Wandel stets auch die Hoffnung auf eine Verbesserung des Lebens verknüpft wird. Andererseits ist das Empfinden des vertrauten, also möglichst unveränderten Charakter eines Ortes häufig erst die Voraussetzung für die Bewahrung von Heimatgefühlen.

Es ist dem Museum der Stadt Wien zu danken, daß es exemplarisch am Beispiel der Ausstellung "Alt-Wien" noch bis zum 28. März zeigt, was auch für andere Städte in vergleichbarem, vielleicht lediglich etwas bescheidenerem Rahmen zutrifft: ein ständiges Tauziehen zwischen Tradition und Moderne. Bei "Alt-Wien" handelt es sich indes nicht nur um den Rückblick auf einen vergangenen Zustand. Schon der Untertitel der Ausstellung, "Die Stadt, die niemals war", verdeutlicht, daß jede Tradierung schnell mit Mythologisierung und Verklärung einhergeht. Es beginnt schon damit, daß eine wirklich auch nur halbwegs präzise zu nennende Definition von "Alt-Wien" nicht existiert. Ist damit das mittelalterliche Wien, das Wien der Barockzeit, das biedermeierliche Wien oder das Wien in der Endzeit der k.u.k. Monarchie gemeint?

Der Glaube an eine lichte Zukunft schien grenzenlos

Der nostalgische Gehalt des Begriffs "Alt-Wien" ist jedoch keine zwangsläufige Erscheinung. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts war unter Kaiser Joseph II. der Umbau der Stadt von einem großen Optimismus geprägt: Im Zeitalter der Aufklärung schien der Glaube an den Fortschritt und eine lichte Zukunft grenzenlos. Mit der Aufhebung und dem Abriß der Klöster wurde erstmals seit dem Mittelalter an mehreren Plätzen der Innenstadt Baufreiheit geschaffen. Die äußerst enge und niedrige Bebauung wurde durch geräumige vier- bis fünfstöckige Wohn- und Gewerbegebäude ersetzt, teilweise wurden auch bewußt Freiflächen geschaffen. Das Echo auf diese Umgestaltung war in überwiegend positiv.

Erst mit der Abtragung der ältesten Stadtbegrenzungen Wiens, wie dem Katzensteigtor im Jahr 1825, meldeten sich erste kritische Stimmen zu Wort, die vor einer zu schnellen Umgestaltung warnten. Das Interesse an einer geschichtlichen Dokumentation der "alten Stadt" wurde erstmals in Aufsätzen thematisiert, die jedoch außer bei einem kleinen Teil des gebildeten Bürgertums zunächst nur auf geringe Zustimmung trafen. Erst in den 1840er Jahren wurde das Anliegen, eine stärkere Abwägung zwischen dem erhaltenswerten Alten und Neuem vorzunehmen, vor allem durch den Schriftsteller und Antiquar Franz Gräffer popularisiert. Gräffer bediente in seiner Argumentation dabei zum ersten Mal nostalgische Gefühle: "Wenn in Wien das letzte alte Haus abgebrochen wird, so wandern 100.000 echte alte Wiener fort, aus diesem entwienerten Wien" (1849).

Die Zeit der großen städtebaulichen Veränderungen setzte allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Wien entwickelte sich allmählich zu einer europäischen Metropole: Lag die Einwohnerzahl im Jahr 1859 bei etwa 430.000, so vervierfachte sie sich innerhalb von lediglich vier Jahrzehnten (1900: 1.880.000). Diese rasche Vermehrung hatte städtebaulich gravierende Folgen: So wurden allein in der Innenstadt von 1850 bis 1900 über fünfzig Prozent aller Häuser abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Durch den Abriß der Stadtmauer und der Tore im Jahr 1858 dehnte sich Wien schnell aus. Die Reaktionen des städtischen Bürgertums waren ambivalent: So begrüßten einerseits viele die Schleifung der Befestigungen als Befreiung; Johann Strauß (1825-1899) komponierte Anfang der sechziger Jahre eine "Demolierer-Polka". Gleichzeitig empfanden sie den Verlust der attraktiven Möglichkeit des Spazierens auf den Basteien als Einschnitt. Eine vergleichbare Veränderung der vertrauten Lebensumstände bedeutete auch die Regulierung der Donau - eine Notwendigkeit, die sich aus einem schweren Hochwasser von 1862 ergab. Innerhalb eines Zeitraumes von sechs Jahren wurde das Flußbett schließlich aus der Nähe des Innenstadtbereiches an den Ort verlegt, wo es sich heute noch befindet.

Die wachsende Bedeutung der Industrie und des Großhandels steigerte zugleich das Verlangen nach besseren Verkehrswegen. Der Stadtumbau von Paris unter Präfekt Haussmann wurde zum europäischen Vorbild der Umgestaltung zu einer modernen Großstadt. In einem Zeitraum von zwei Jahrzehnten wurden viele alte, winkelige Straßenzüge durch lange, breite Boulevards ersetzt. Auf historisch wertvolle Gebäude wurde dabei selten Rücksicht genommen. Die einsetzenden Grundstücksspekulationen und die explodierenden Preise für innerstädtischen Baugrund führten dazu, daß Investoren immer höherstöckige Neubauten errichteten, um aus möglichst großen Gewerbe- und Wohnflächen hohe Mieteinnahmen beziehen zu können.

Am Chicagoer "Old Vienna" war nichts Wienerisches

Nach diesem Muster wurde in Wien die Bebauung am Graben und in der Kärntnerstraße nahezu komplett ausgetauscht. Ein besonderes Projekt stellte die Anlage des Ringes mit den Prachtbauten wie Theater, Oper, Parlament, Universität, Rathaus dar, welche bis heute für den Wien-Besucher das Antlitz der Stadt am deutlichsten prägen. Für diese gewaltige Umgestaltung innerhalb eines Vierteljahrhunderts - aber auch als grundsätzlicher Gegensatz zur beengten Altstadt - wurde zum ersten Mal der Begriff "Neu-Wien" verwendet. Der Antipode -"Alt-Wien" - war die fast zwangsläufig folgende Gegenreaktion auf die schnellen und umfangreichen Veränderungen.

Anläßlich der Wiener Weltausstellung von 1873 widmete der Industrielle Friedrich Rosenberg Kaiser Franz Joseph ein Album mit zwölf Aquarellen von Franz Alt zum Thema "Wien - Einst und jetzt". Im Wiener Illustrierten Extrablatt wurde in den siebziger Jahren die Serie "Ein Stück verschwindendes Wien" veröffentlicht. Der große Erfolg der Serie bewog den Wiener Altertumsverein, die Artikel in Form eines Buches "Alt-Wien in Wort und Bild" (1893) herauszugeben. In der gleichen Zeit wurde eine Monatsschrift für Wiener Art und Sprache mit dem Titel Alt-Wien gegründet, die stadt- und kulturgeschichtliche Aufsätze vereinte. Bekannte Maler und Fotografen wie Rudolf von Alt und August Stauda produzierten "zur Erinnerung an die Nachwelt" Bilder mit besonders idyllisch erscheinenden Winkeln der Stadt.

Der Durchbruch gelang dem Begriff "Alt-Wien" allerdings erst auf der Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen, die 1892 im Prater präsentiert wurde. Zu diesem Zweck wurde ein Modell einer fast originalgetreuen Nachbildung des Hohen Marktes am Ende des 17. Jahrhunderts gezeigt. Das große Interesse daran trug dazu bei, daß die Idee nur ein Jahr später auf der Weltausstellung in Chicago wieder aufgegriffen wurde. Im Gegensatz zur Schaustellung im Prater beruhte das dortige "Old Vienna" allerdings nicht auf realer Grundlage, sondern auf freier Phantasie: Dargestellt wurde ein spätmittelalterlicher Straßenzug, der nichts "typisch Wienerisches" enthielt, sondern auch eine beliebige süddeutsche Stadt wie etwa Nürnberg oder Augsburg hätte darstellen können. Doch der erneute Erfolg bewirkte, daß ähnliche Ensembles auch auf der Weltausstellung in Antwerpen (1894), auf der Millenniumsausstellung in Budapest (1896) und auf der Weltausstellung in Paris (1900) präsentiert wurden.

Durch die immer stärkere Entfernung von der Realität verschwammen nicht nur bei den Modellen, sondern auch beim Begriff "Alt-Wien" selbst schnell die Konturen. Um die Jahrhundertwende schien es zwar noch gesellschaftlicher Konsens zu sein, jedes scheinbare Wien der Biedermeierzeit als typisches "Alt-Wien" zu bezeichnen. Wichtiger Grundstock dieses Mythos war die Anbindung an den Komponist Franz Schubert, was vor allem auf dem Erfolg der großen Schubert-Ausstellung von 1897 beruhte, die in den zwanziger Jahren eine Fortsetzung fand. Doch auch das Wien der Barock- und Rokokozeit wurde als "Alt-Wien" bezeichnet. "Alt-Wien" bekam dadurch endgültig den Klang von Wehmut und Nostalgie. Was es konkret bedeuten sollte, wurde indes immer unklarer.

War bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Kritik an den Umbaumaßnahmen in erster Linie auf eine behutsame Infragestellung der Vernichtung einiger Kulturgüter hinausgelaufen und im Feuilleton ausgetragen worden, so fand nun die Ablehnung des Neuen Eingang in politische Debatten. Der Ton wurde schärfer, die Kluft zwischen Befürwortern und Gegnern des modernen Städtebaus größer: Sätze wie zum Beispiel "Wien ist Damm und Bollwerk gegen den eindringenden Amerikanismus" (Franz Servues, 1902) oder "Der Ausländer kommt nicht nach Wien, um eine großartige moderne Weltstadt von amerikanischer Großzügigkeit zu sehen" (Hugo Hassinger, 1909) mutierten zu Leitsätzen der Traditionalisten, die sich gelegentlich auch vor scharfen Vergleichen zwischen den Hauptstädten der verbündeten Monarchen nicht zurückschreckten. So fragte Josef August Lux 1909: "Wollen wir so lange zusehen, bis unsere schöne Stadt auf das bauliche Niveau von Berlin herunterkommen ist?"

Auffällig war seit der Jahrhundertwende das Suchen nach speziellen Wiener Typen, die den besonderen Charme von "Alt-Wien" treffend zum Ausdruck bringen sollten. Die Wahl fiel auf Fiaker und Wäschermädel, Gemüsehändlerinnen und Dienstmänner, Lavendelfrauen, Deutschmeister und Maronibrater. Diese Figuren wurden nicht nur zu den typischen Charakterdarstellern auf städtischen Bühnen, sondern fanden auch in Form von Graphik-Editionen, Fotos oder Porzellanfiguren rege Verbreitung. Die Typen dienten als Symbol der Beharrlichkeit gegenüber dem als bedrohlich empfundenen Fortschritt.

Nach der Revolution und dem Kriegsende von 1918 setzten die nunmehr regierenden Sozialdemokraten gezielt auf den Begriff "Neu-Wien". "Neu-Wien" verkörperte in erster Linie den sozialen Wohnungsbau zu billigen Preisen und stellte sich bewußt gegen die Nostalgie "Alt-Wiens". Ihre christlich-sozialen Konkurrenten bezogen diesen Begriff nunmehr statt auf Rokoko, Barock oder Biedermeier auf jene Ära unter dem Bürgermeister Karl Lueger in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts. "Alt-Wien" wurde nun endgültig zum grundsätzlichen Begriff für die "gute alte" Zeit der Monarchie - auch zu jener, die sich noch vor drei Jahrzehnten mit dem Begriff "Neu-Wien" geschmückt hatte.

"Neu-Wien" war sozialer Wohnungsbau zu Billigpreisen

Mit dem Siegeszug der Filmkunst ging die weitere Verklärung des biedermeierlichen Wiens zur Zeit des Wiener Kongresses einher. Filme wie "Der Kongreß tanzt" (1930) waren Kassenschlager und verfestigten in vielen Ländern der Welt jene Vorstellungen von Wien, die bis heute großen Einfluß auf die Tourismusbranche haben. Das Film-Wien war eine Mischung aus gutmütigen Obrigkeiten, volksnahen Musikern und Theaterleuten, die sich durch Humor, Leichtsinn, Herz, Historienverbundenheit, Musik und natürlich den Wein - der stets in Strömen floß - auszeichneten. Die Heurigen in Grinzing wurden in dieser Zeit derartig populär, daß sich bis heute kaum ein Tourist an ihnen vorbeimogeln kann. Der Wien-Film bestand unbeschadet die kurze NS-Ära und war bis in die frühen sechziger Jahre ein Erfolgsgarant.

Der Begriff "Alt-Wien", aufgrund dieser Vergangenheit in die Köpfe von mehreren Generationen gedrungen, prägt bis heute das Image der Stadt - so widersprüchlich und fragwürdig er auch sein mag. Es ist das, was Touristen aus aller Welt noch heute suchen und finden wollen, wenn sie in Wien sind.

Die Ausstellung "Alt-Wien: Die Stadt, die niemals war" ist noch bis zum 28. März im Künstlerhaus Wien zu sehen. Tel. 0041/1/5058747-0, Internet: www.wienmuseum.at . Der sehr empfehlenswerte Katalog hat 575 Seiten und kostet in der Ausstellung 32 Euro, im Buchhandel 45 Euro.

"Alt-Wien" auf der Theaterausstellung 1892 - Rekonstruierte Häuserzeile vom "Hohen Markt": "Wollen wir zusehen, bis unsere schöne Stadt auf das bauliche Niveau von Berlin herunterkommen ist?"

 Foto: Alexander Giradi als Fiaker gekleidet (um 1900): Wiener Typen


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