© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/05 18. März 2005

Reformpädagogische Ohrfeigen
Altkanzlergattin Loki Schmidt verweist auf Erziehungsmodelle, die im Pisa-Reich gruselig anmuten
Ellen Kositza

Vielleicht denkt nur der Schelm, daß die Aufregung um Loki Schmidts Buch über ihr "Leben für die Schule" mehr einem inszenierten Promotionsgag denn tatsächlicher Empörung entsprang. Immerhin verhalf diese der Gattin des ehemaligen Kanzlers zu einer kleinen pädagogischen Ratgeberserie in der Bild-Zeitung.

Eigentlich ist es nämlich wenig mehr als eine Doppelseite, an der sich Diskussionen in zahlreichen Zeitungen und heiße Debatten in diversen "Newsgroups" entzündeten. Auf die Frage ihres Interviewpartners, wie es um die Disziplin stand in ihrer Klasse, antwortet Frau Schmidt hier, sie "war immer der Meinung, wenn mal einer ganz aus der Rolle fällt, dann gibt's einen Klaps". Weil körperliche Züchtigung schon damals verboten war, habe sie diese Erziehungsmethode immer vorher mit den Eltern abgesprochen: "Wenn ihnen das nicht gefällt, es gibt ja eine Parallelklasse." Und, in geradezu erfrischender Unbedarftheit: "Nun war das auch kein richtiger Schlag, sondern nur eine Backpfeife, aber es klatschte durchaus mal. Nein, nie hat sich ein Kind beschwert, und - was ja heute mindestens genauso wichtig wäre - nie haben sich die Eltern beschwert. (...) Also ich verteidige meinen Klaps."

Wer nun erwartet, in Loki Schmidts Erinnerungen an ihre 29 Jahre währende Lehrtätigkeit ein Plädoyer für Zucht und Ordnung als pädagogische Grundpfeiler zu lesen, dürfte sich täuschen: Die Reformschulbewegung vom Anfang des vorigen Jahrhunderts stellt nicht nur den Ausgangs-, sondern weiterhin den Dreh- und Angelpunkt ihrer Schulmemoiren dar: "Lernen durch Handeln", ganzheitliche Welterfahrung, koedukativer Unterricht und Freiluftschulen sind einige der Pfeiler dieser in sich sehr heterogenen Konzeptionen, welche seinerzeit die althergebrachte Fächerschule mit ihrer Dominanz des Auswendiglernens durchbrechen wollten.

Dabei widmet sich Loki Schmidt in ihrem Gespräch mit dem Hamburger Pädagogikprofessor Reiner Lehberger zunächst ausführlich ihrer eigenen Schullaufbahn - insofern ist das vorliegende Buch als Ergänzung zu ihren vor zwei Jahren erschienenen Lebenserinnerungen gedacht. Als ältestes von vier Kindern entstammt die Kanzlerfrau einer Arbeiterfamilie mit vorbildlichem Bildungshunger. Beide Eltern waren fleißige Besucher der in der Weimarer Republik eingerichteten Volkshochschulen. Die dort vermittelten Kenntnisse in Naturwissenschaften, Architektur und Kunst wurden mit Begeisterung und geprägt durch Anschaulichkeit an Loki weitergegeben. Der Vater spielte Cello - Loki erhielt bereits mit fünf Jahren trotz knapper Kasse Geigenstunden - und übte sich während seiner langjährigen Arbeitslosigkeit als Laienschauspieler; von der Mutter, einer Schneiderin, lernte die Tochter schon in jüngsten Jahren zahlreiche Handarbeitstechniken.

Hamburg stellte zur damaligen Zeit ein Zentrum der Reformschulbewegung dar, und so konnte auch Loki eine Schule besuchen, die wider den damals vorherrschenden Zeitgeist koedukativ beschulte und neben regelmäßiger Gruppen- und Projektarbeit auch Nachmittagsunterricht anbot - als freiwillige und in der Regel unbezahlte Mehrarbeit für das Kollegium. Auch für die meisten Eltern, erinnert sich Frau Schmidt, war die Schule ein ganz wichtiger Teil des Lebens: "Es gab kein Fernsehen, kein Radio. Geld, um mal ins Theater zu gehen, war kaum da. Die Schule war also Lebensinhalt und Anregung auch für viele Eltern, vor allem in den Jahren der Massenarbeitslosigkeit." Die Väter konstruierten eine Schulbühne, die Mütter besserten nachmittags gemeinsam alte Kleidung aus.

Ab 1929 besuchte Loki die ebenfalls reformpädagogisch arbeitende Lichtwarkschule, wo sie ihren künftigen Mann kennenlernte: Das eigenständige, freie Arbeiten im fächerübergreifenden Unterricht stand hier im Vordergrund, ein Schwerpunkt lag auf Kunsterziehung, täglich wurde geturnt. Alfred Lichtwark, Direktor der Hamburger Kunsthalle, pflegte ein vitales pädagogisches Motto: "Die Schule geht vom Stoff aus und bleibt am Stoff kleben. Sie sollte von der Kraft ausgehen und Kraft entwickeln. Mit ihrer ausschließlichen Sorge um den Lehrstoff hat die Schule satt gemacht. Sie sollte hungrig machen."

Ihr eigenes Lehramtsstudium begann Loki Schmidt im Vorkriegsjahr 1938 nach einem halbjährigen Reichsarbeitsdienst, den sie als sehr angenehm und lehrreich schildert. Ihren eigenen Unterricht an der Grundschule orientierte sie im folgenden an den Ideen der Reformbewegung: Lernen aus Anschauung in der Schrittfolge beobachten - klären - darstellen. Nachdem Helmut Schmidt als Verteidigungsminster nach Bonn umziehen mußte, beendete seine Frau ihre Lehrtätigkeit. Die Krise des jetzigen Schulsystems - die leider recht kurz kommt in dem ansonsten durchweg interessanten Gesprächsband - sieht Loki Schmidt vor allem darin begründet, daß schon per Grundgesetz der Bürger primär auf seine "Rechte" hingewiesen wird: "Schauen Sie mal nach im Grundgesetz: Von den Pflichten des Einzelnen ist dort nicht die Rede. Irgend etwas ist da fehlgelaufen."

Ihre eigene Lehrerin, so erzählt Loki Schmidt, habe übrigens nur ein einziges Mal zum Mittel der körperlichen Züchtigung gegriffen. Jener Vorfall habe damals in der Klasse für tagelange Empörung gesorgt. Die betraf jedoch nicht das Verhalten der Lehrerin, sondern die Tatsache, daß diese von dem betroffenen Schüler angelogen worden war: "Nicht den Backs, sondern die Lüge fanden wir unerhört." 

Loki Schmidt: Mein Leben für die Schule. Hoffmann und Campe, Hamburg 2005, 312 Seiten, gebunden, Abbildungen, 22 Euro


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