© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/05 18. März 2005

Aus Eis mach Dampf
Nach dem Brand in der Anna-Amalia-Bibliothek: Das Zentrum für Bucherhaltung in Leipzig rettete viele Werke
Ekkehard Schultz

In der Nacht vom 2. zum 3. September des vergangenen Jahres brach aus bis heute nicht restlos geklärter Ursache in der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar ein verheerender Brand aus, dem eine Vielzahl kostbarer Bücher und Bilder - insbesondere aus dem 17. und 18. Jahrhundert - zum Opfer fiel.

Ein großer Teil der vom Löschwasser durchnäßten Bestände - etwa 62.000 Bände - wurde in einer Rettungsaktion unverzüglich in das Zentrum für Bucherhaltung (ZfB) nach Leipzig gebracht, um mit Hilfe des dort angewendeten Verfahrens der Gefriertrocknung eine möglichst große Anzahl dieser Werke der Nachwelt zu erhalten.

Das heutige ZfB ging Anfang 1998 aus dem Zentrum für Bucherhaltung der Deutschen Bibliothek, Deutsche Bücherei Leipzig als Ausgliederung hervor. Nach fast 35 Jahren Entwicklung im öffentlichen Dienst waren Umfänge erreicht worden, die eine neue Organisationsform erforderten. Zum Stamm der Auftraggeber der sich eines sehr guten Rufes erfreuenden Institution zählen heute Bibliotheken, Archive und Museen aus Deutschland, Europa sowie den Vereinigten Staaten.

Bevor überhaupt mit der Trocknung begonnen werden kann, muß das durchnäßte Papier zunächst gründlich von Schmutz und Schlamm gereinigt werden. Zudem zählt jede Minute, damit die bereits nach wenigen Stunden einsetzende Schimmelbildung sowie die Zersetzung des Papiers durch Mikroorganismen vermieden werden kann.

Bei der Gefriertrocknung nimmt das zuvor eingefrorene Wasser während des gesamten Trocknungsvorganges nicht mehr den flüssigen Aggregatzustand ein, sondern geht direkt von Eis in Dampf über, die sogenannte "Sublimation". Dieser Trocknungsvorgang wird bei einer Gefriertrocknung von Papieren stark beschleunigt, indem die zuvor tiefgefrorenen Akten und Bücher in Vakuumkammern einem Unterdruck von weniger als 6 Millibar ausgesetzt werden.

Ein zusätzlicher "Turbo" entsteht durch Erwärmen der tiefgefrorenen Papiere - je nach Papiersorte auf bis zu +50 Grad Celsius. Bei dieser erhöhten Temperatur schmilzt das Eis nicht, da in der Kammer ein Vakuum herrscht, das unter dem sogenannten Trippelpunkt des Wassers liegt. Der Trippelpunkt ist der physikalische Druck (ca. 6 Millibar), unterhalb dessen Wasser nie flüssig wird, auch wenn die Temperatur über dem Schmelzpunkt des Eises liegt.

Der im Vakuum aus den Papieren entweichende Wasserdampf wird an Eiskondensatoren bei ca. -50 Grad Celsius zu Eis kondensiert. Diese niedrige Kondensator-Temperatur ist nötig, um die empfindlichen Vakuum-Pumpen vor Wasserdampf zu schützen, ein Vakuum von mindestens 6 Millibar zu erreichen und gleichzeitig den entweichenden Wasserdampf zu Eis zu kondensieren.

Bei einer Gefriertrocknung ist ein optimales Zusammenspiel von Unterdruck, Eiskondensator- sowie der Heiztemperatur für eine effektive und schonende Trocknung des Gutes entscheidend. Mit Temperatursensoren an den tiefgefrorenen Papieren und am Druckverlauf innerhalb der Kammer ist die Qualität und das Ende der Trocknung genau bestimmbar. Nach der Gefriertrocknung sind die Papiere extrem trocken und in diesem Zustand vorsichtig zu behandeln. Nach ein bis drei Wochen Lagerung in der Raumatmosphäre absorbieren diese teilweise über zehn Prozent ihres Gewichtes an Wasser aus der Luft und erhalten dadurch ihre gewohnte Geschmeidigkeit wieder zurück.

Das Papier nimmt wieder Wasser aus der Luft auf

Das Verfahren der Gefriertrocknung (im Fachmund "Lyophylisation" genannt) besitzt gegenüber anderen Trocknungsarten den Vorteil, daß das durchnäßte Papier nicht bzw. nur sehr gering mechanisch beansprucht wird. Mit der Gefriertrocknung kann annähernd ausgeschlossen werden, daß Seiten verkleben, die Druckerschwärze "ausblutet" und Metallteile rosten. Deshalb ist sie auch für sehr alte Bücher auf empfindlichem Papier geeignet.

Danach beginnt die "Nachbehandlung". Durch die Wasseraufnahme des Papiers und anschließende Feuchtigkeitsabgabe während des Trocknungsprozesses können an den einzelnen Papierfasern ungleichmäßige Spannungen auftreten, die ein Wellen bzw. Verziehen nach sich ziehen können. Bei starken Bucheinbänden oder dickeren Kartonagen ist dieser Effekt besonders ausgeprägt (alte Ledereinbände können hierbei sogar reißen).

Derart deformierte Papiere können wieder geglättet werden, indem man sie unmittelbar nach dem Trocknen durch Pressen in die "plane" Form bringt. In diesem plangepreßten Zustand verbleiben die Bücher so lange, bis das Papier wieder seinen normalen Wassergehalt aus der Luftfeuchtigkeit aufgenommen hat. Abhängig von der umgebenden Luftfeuchtigkeit und der Raumtemperatur benötigt das Glätten ca. zwei bis sechs Wochen.

Die Beschaffenheit und das Aussehen von wassergeschädigten Papieren vor dem Einfrieren bleibt durch das Gefriertrocknungsverfahren erhalten und der Zustand wird durch diese Trocknungsmethode nicht verschlechtert. Eine Ausnahme stellen dabei sehr nasse Bücher dar, da sie schnell wellig werden. Die Lesbarkeit der Daten ist jedoch auch in diesem Fall gesichert.

Je älter ein Buch, desto individueller sein Gesicht

Das Verfahren der Gefriertrocknung erfordert die intensive Beschäftigung mit jedem einzelnen Buch. Schon daher können die Kosten nicht ganz gering sein: Im Regelfall betragen sie mehrere hundert Euro pro Buch, bei besonders großformatigen Werken liegen sie weit darüber. Dennoch wird diese Variante besonders bei sehr alten Büchern gegenüber dem eventuellen Ersatz durch ein anderes Exemplar bevorzugt.

Denn je älter ein einzelnes Buch ist, um so individueller ist es in seiner äußeren Gestalt (z.B. in Einband, Kolorierung) und in seiner oft noch erkennbaren Gebrauchsgeschichte (z.B. durch Exlibris oder Marginalien eines Vorbesitzers).

Eine Partitur aus Anna Amalias Musikaliensammlung oder ein Band aus der Sammlung Conrad Samuel Schurzfleisch zur Frühen Neuzeit ist kostbarer und für die Geschichte der Bibliothek wichtiger als das gleiche Exemplar aus einer beliebigen Provenienz. Daher bevorzugt man bei der Stiftung Weimarer Klassik die Restaurierung, wenn der Unterschied zu den Kosten für die Wiederbeschaffung nicht zu hoch ist.

Inzwischen sind bereits über 22.000 Werke aus Leipzig nach Weimar zurückgekehrt. Ein Teil der besonders kostbaren Stücke konnte bereits im Rahmen einer Sonderausstellung im Schloßmuseum Weimar vom 18. Dezember bis 20. Februar von der Öffentlichkeit präsentiert werden. Die letzten Stücke sollen aus Leipzig im Herbst 2005 nach Weimar transportiert werden.

Die infolge des Brandes eingetretenen Verluste sind trotz dieser erfreulichen Rettung beträchtlich: Neben den rund 50.000 total zerstörten Werken ist die Rekonstruktion von weiteren 28.000 Büchern als äußerst fraglich zu betrachten. Letztere sollen daher zum größten Teil mit in die Verlustliste aufgenommen werden. Dann bleibt nur die Variante des Ausgleiches durch Schenkungen und Ankäufe von anderen Bibliotheken und öffentlichen Einrichtungen sowie durch Antiquare und Sammler.

Insgesamt rechnet die Stiftung Weimarer Klassik mittelfristig mit jährlichen Kosten für Rekonstruktion und Ankauf von 20 Millionen Euro. Pro Buch liegt damit der Aufwand bei durchschnittlich 800 Euro. Zur Bestreitung der erheblichen Gesamtsumme werden noch viele Spenden von Unternehmen und Stiftungen sowie Erlöse aus Benefizveranstaltungen und Schülerprojekten, Publikationsverkäufen und Wetten, Kunstauktionen und Bußgeldern notwendig sein.


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