© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/05 25. März 2005

"Niederlage, nicht Befreiung"
Ursula Besser, ehemalige Alterspräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, über das geschichtspolitische Versagen der CDU
Moritz Schwarz

Frau Dr. Besser, in Schleswig-Holstein wird die CDU - nach dem Eklat im Landtag am Donnerstag letzter Woche - dank außergewöhnlicher Umstände möglicherweise doch noch an der Regierungsbildung beteiligt.

Besser: Ja, knappe Resultate gab es schon öfter, denken Sie nur an die Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler.

Die Verweigerung der - entscheidenden - Stimme eines Abgeordneten des eigenen Lagers bei der Wahl eines Ministerpräsidenten hat es zum letzten Mal 1976 im Niedersächsischen Landtag gegeben. Kann es sich die Union leisten, die Macht allein solchen Zufällen zu verdanken?

Besser: Immerhin ist die CDU zuvor mit einem Zuwachs von fünf Prozent aus der Landtagswahl hervorgegangen. Eine gewisse Eigenleistung gab es also.

Erneut ist es der CDU jedoch nicht gelungen, eine strukturelle Mehrheit zu gewinnen. Kann sie mit einer einfachen Zählmehrheit zufrieden sein, wenn sie ihrem Anspruch als Volkspartei noch gerecht werden will?

Besser: Sie haben insofern recht, als der Wahlsieger CDU in Kiel ohne den jetzt eingetretene Zufall dennoch in der Opposition sitzen würde. Die Union kann sich langfristig Wahlsiege lediglich nach Prozenten nicht leisten, da sie - nur mit der kleinen FDP an ihrer Seite - gegenüber der SPD, der mit PDS, Grünen, FDP und in Kiel gar dem SSW eine ganze Reihe von Optionen offenstehen, strategisch im Nachteil ist.

Wo sehen Sie das Problem?

Besser: Ein weiterer strategischer Vorteil der SPD ist, daß sie der wichtigste Partner der Gewerkschaften ist. Die Unsicherheiten, die in der politischen Führung Bundeskanzler Schröders immer wieder zu beobachten sind, liegen in der Tatsache begründet, daß er viel stärker am Band der Gewerkschaft hängt, als er zugibt. Die CDU versucht "traditionell", angestrengt die Kontakte zu den Gewerkschaften zu verbessern. Denn in der Union widerstreiten bekanntlich Unternehmer- und Arbeitnehmerinteressen. In der Vergangenheit konnte dieser Widerspruch durch umfangreiche soziale Leistungen der "alten" Bundesrepublik befriedet werden. Heute, in Zeiten knapper Kassen und überbeanspruchter sozialer Sicherungssysteme, droht dieser Widerspruch für die CDU gefährlich zu werden.

Zwar hat laut Infratest-Dimap-Umfrage Schwarz-Gelb in NRW mit 49 Prozent gegenüber Rot-Grün mit 45 Prozent derzeit die Nase vorn, in Kiel jedoch stand der fast verlachte Peter Harry Carstensen gegen die beliebte Heide Simonis. Im Bund bringen die Querelen mit der CSU und die immer wieder diskutierte Stellung von Angela Merkel die Union gegenüber der Person Gerhard Schröders in Hintertreffen. Und in Ihrem Landesverband trauen mittlerweile nicht einmal mehr die eigenen Leute dem Berliner CDU-Chef Joachim Zeller zu, 2006 Klaus Wowereit zu schlagen.

Besser: Die Union in der Hauptstadt leidet unter den Nachwirkungen zweier Faktoren: der sehr langen Amtszeit der früheren Führungsfigur - des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen -, was in jeder Partei die Herausbildung adäquater Nachfolger behindert. Und dem Berliner Bankenskandal, der - zu Unrecht - allein der Union angelastet wurde.

Kann es allein mit den üblichen Reorganisationsschwierigkeiten erklärt werden, wenn von 2002 bis jetzt immer noch über den richtigen CDU-Kanzlerkandidaten beziehungsweise Kandidaten für das Amt des Regierenden Bürgermeisters nachgedacht wird? Immerhin stehen 2006 im Bund wie in Berlin Wahlen an!

Besser: Warten wir die Wahlen in NRW am 22. Mai ab. Wenn es Jürgen Rüttgers gelingt, Peer Steinbrück abzulösen, dürfte das Gemurmel um Stoiber, Koch, Wulf, und Co. vorbei sein und Angela Merkel wird als Kandidatin der Union feststehen. Was den Berliner Landeschef Joachim Zeller angeht, so hatte er das Pech, daß er kurzfristig einspringen mußte, als der Landesparteitag 2003 nicht wie vorgeschlagen den ehemaligen Finanzsenator Peter Kurth (siehe Interview JF 44/01) zum Landesvorsitzenden wählte.

Hat Zeller zudem nicht in der Auseinandersetzung um eine angemessene Würdigung der deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf (JF berichtete mehrfach) alles getan, um das bürgerliche Profil der CDU zu verwischen?

Besser: Die CDU-Landesführung stand dem Streit um den ersten Beschluß in Steglitz-Zehlendorf - "Der 8. Mai steht neben der Befreiung vom totalitären Naziregime auch für die Schrecken und das Leid der Bevölkerung" - in der Tat hilflos gegenüber. Und es darf vermutet werden, daß die Bundes-CDU froh darüber war, daß sich der Fall auf einer Ebene abspielte, die sie nicht zwang, selbst Stellung zu beziehen.

Ohne Rückendeckung und nachdem Zeller gar den Rücktritt des CDU-Bezirksverordneten Torsten Hippe gefordert hatte (JF berichtete), verabschiedete die CDU/FDP in Steglitz-Zehlendorf schließlich einen neuen Text, in dem es heißt: "Der 8. Mai war der Tag an dem die nationalsozialistische Gewaltherrschaft endete" und "Gleichwohl endete das kriegsbedingte Leid ... nicht für alle Völker Europas". Sie waren am 8. Mai 1945 in Berlin. Finden Sie Ihre persönliche Erfahrung in dieser Formulierung wieder?

Besser: Ganz und gar nicht, und das, obwohl ich selbst aus einer Familie stamme, die unter den Nationalsozialisten erhebliche politische Schwierigkeiten hatte: Mein Vater wurde 1934 als Personalchef der Berliner Polizei von den Nazis aus politischen Gründen entlassen. Aber das kann mich nicht veranlassen, die historische Erinnerung an den 8. Mai 1945 - den die überwältigende Mehrheit der Deutschen damals ähnlich empfunden haben dürfte wie ich - mit späteren politischen Deutungen von der "Überwindung des nationalsozialistischen Regimes" allein zu belasten.

Wie haben Sie den 8. Mai erlebt?

Besser: Als totale Niederlage - von Befreiung konnte damals keine Rede sein.

Wie hätten die CDU-Mitglieder zu Ihrer aktiven Zeit als Politikerin zu einer Deutung als "Befreiung" gestanden?

Besser: Eine derartig einseitige offizielle Deutung wäre damals nicht möglich gewesen, weil viele CDU-Mitglieder den 8. Mai 1945 noch selbst erlebt hatten.

Immerhin war es der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin und spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der in seiner Rede zum 8. Mai 1985 den Begriff "Befreiung" als einer der ersten ins Spiel brachte.

Besser: Von Weizsäcker hat nach meinem Verständnis sein Wort von der "Befreiung vom Nationalsozialismus" nicht als die Deutung, sondern als einen Aspekt der Deutung dieses Tages formuliert. Das ist etwas völlig anderes als das, was heute öffentlich gefordert wird und zu dem letztgültigen Beschluß in Steglitz-Zehlendorf geführt hat, in dem das Gedenken an die deutschen Opfer in der Formulierung "nicht für alle Völker endete das Leid" verklausuliert wird.

Im Klartext: Die CDU hat keine eigene Position zum 8. Mai, sondern übernimmt die Deutung von Rot-Grün?

Besser: Das ist etwas zugespitzt formuliert. Es stimmt aber, daß die Union zur Zeit keine deutliche eigene Position dazu formuliert, die den Erfahrungen der Erlebnisgeneration entspricht.

Zur Zeit?

Besser: Wir müssen darauf hinwirken, daß die Union dies revidiert. Eine solche ständige Selbstverleugnung ist den Deutschen nicht für alle Zeit zuzumuten.

Nach JF-Informationen hatten CDU-Parlamentarier Angela Merkel intern dazu aufgefordert, an den Gedenkfeierlichkeiten zum 13. Februar in Dresden teilzunehmen - vergeblich. Wenn sich nach der Landtagswahl in NRW entscheiden sollte, daß Merkel die Zukunft der CDU ist, woher nehmen Sie dann die Hoffnung, daß sich in der CDU etwas ändern sollte?

Besser: Man muß bedenken, daß die Niederlage 1945 die Deutschen allgemein zur Vorsicht in der Frage der historischen Deutung des Krieges veranlaßt hat, denn damals galt: "Vae victis!" - "Wehe dem Besiegten!" Unter dieser deutschen Befangenheit leidet nicht nur die CDU bis heute. Und Sie dürfen nicht vergessen - und das sage ich Ihnen als erfahrene Bildungspolitikerin -, daß wir im Laufe der sechzig Jahre seit dem Kriegsende fatalerweise durch alle unsere Institutionen der öffentlichen Bildung diese Unsicherheit gesellschaftlich noch weiter vertieft haben.

Sie sprechen von Umerziehung?

Besser: Beziehungsweise von "Reeducation", wie die Amerikaner es damals genannt haben.

Liegen die Motive der CDU nicht weniger in einer "deutschen Befangenheit" als, wie Ihr Parteikollege, der ehemalige Berliner Innensenator Heinrich Lummer es unlängst formuliert hat, in einer "verdammten Verbeugung vor der Political Correctness"?

Besser: Wir sollten uns über eines keine Illusionen machen: Parteien sind nichts weiter als politische Instrumente in einer gesellschaftlichen Landschaft, die diese Parteien nicht nur hervorgebracht haben, sondern auch fortlaufend mitprägen. Die CDU wird allerdings in der Tat auf die Dauer nicht umhinkommen, die Vorgaben der Political Correctness zu korrigieren, wenn sie weiterhin eine führende politische Kraft bleiben will. Denn es geht ja nicht nur um Geschichtspolitik - die Political Correctness erstreckt sich auch auf andere Bereiche der Gesellschaftspolitik, wie etwa Bevölkerungsstruktur oder Einwanderung.

Als unlängst der sozialdemokratische Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, in dieser Zeitung mehr Verständnis für die Vorbehalte der kleinen Leute gegenüber den multikulturellen Gesellschaftsexperiment anmahnte, forderte die Bezirks-CDU seinen Rücktritt.

Besser: Das ist natürlich grotesk, anstatt einen mutigen Sozialdemokraten mit Blick für die realen Probleme, Sorgen und Nöte der Bürger zu loben und notfalls politisch zu verteidigen, versucht die CDU die Sache taktisch als Machtspiel zu instrumentalisieren. So glaubt man die Political Correctness benützen zu können, ohne zu begreifen, daß sie damit als strategische Waffe gegen die CDU salonfähig gemacht wird. Dazu gehörten meines Erachtens auch die Vorwürfe gegen Buschkowsky, weil er Ihrer Zeitung ein Interview gegeben hat.

Inwiefern?

Besser: Ich halte den Umgang mit der JUNGEN FREIHEIT - insbesondere das isolierte Vorgehen des Verfassungsschutzes in NRW - im Grunde für einen Verstoß gegen die im Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit, für die die Pressevielfalt eine Voraussetzung ist. Denn die Presse ist ein ausgezeichneter Ort parteienübergreifender öffentlicher Auseinandersetzung, an der man sich zu beteiligen hat. Wer das nicht auf konstruktive Art und Weise tut, der schadet sich und anderen.

 

Dr. Ursula Besser: Die ehemalige Alterspräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses wurde 1917 in Berlin geboren, studierte bei Albrecht Haushofer Auslandswissenschaften, heiratete nach Stargard in Hinterpommern, von wo sie im Februar 1945 vor der Roten Armee floh. Mitglied der CDU wurde sie noch im Dezember 1945. Von 1964 bis 1985 vertrat sie ihre Partei im Berliner Landesparlament.

 

Foto: Käthe-Kollwitz-Pieta in der Neuen Wache zu Berlin, der "Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft": "(Wir haben den 8. Mai) als totale Niederlage erlebt. Von Befreiung konnte damals keine Rede sein. Eine solch ständige Selbstverleugnung ist den Deutschen nicht für alle Zeit zuzumuten."

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