© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/05 25. März 2005

Intellektuelle Profile des Judentums
Von Philon bis Derrida: Eine Enzyklopädie jüdischen Denkens
Justus Halck

Jeder Herausgeber eines "Lexikons jüdischer Philosophen" muß zwei Fragen klären, bevor er den ersten Personalartikel in Auftrag gibt: Was ist ein "jüdischer" Philosoph, und was ist ein jüdischer "Philosoph"?

In seiner Einleitung zu dem von ihm und Otfried Fraisse edierten "Metzler Lexikon Jüdischer Philosophen" geht Andreas B. Kilcher diese mehr als nur konzeptionelle Problematik offensiv an und definiert mit einer "formalen Minimalbestimmung": "'Jüdische Philosophie' ist philosophisches Denken von Juden über das Judentum." Kilcher glaubt, mit diesem Minimalismus zugleich auf inhaltlicher Ebene eine Maximalbestimmung ermöglicht zu haben, die die unterschiedlichsten Interpretationen dessen zulasse, was als Judentum gelten solle, nämlich das gesamte Spektrum religionsphilosophischer, ethischer, metaphysischer und politischer Deutungen, das zudem die ganze Bandbreite innerjüdischer Transformationen des Religiösen, von der Orthodoxie bis zum Assimilantentum, umfasse.

Also hätten Kilcher und Fraisse sich einen Weg eröffnet, um mit dem großen Rechen "Pluralisierung und Subjektivierung" die Ideengeschichte auszukämmen und fast 200 Porträts jüdischer Philosophen, vom spätantiken Philon von Alexandrien bis zu dem jüngst verstorbenen Jacques Derrida, in biographisch-bibliographisch handlicher Form präsentieren zu können.

Ungeklärt bleibt in dieser weite Perspektiven eröffnenden Definition allerdings, daß eben nicht jeder Denker in das Lexikon Eingang gefunden hat, sofern er über das Judentum reflektierte, sondern nur "philosophisches Denken von Juden". An diesem Punkt wird die Sache heikel. Denn eine Fixierung derer, die als "Juden" angesprochen werden, riskiert Kilcher lieber nicht. Würde er auf das Herkunftskriterium abstellen, hätte etwa Theodor W. Adorno als Sohn einer nicht-jüdischen Mutter nicht aufgenommen werden dürfen. Ansonsten fällt jedoch auf, daß Kilcher sich "stillschweigend" an der Abstammung, also an dem gemeinhin verpönten ethnischen Kriterium orientiert hat, da nur Denker Berücksichtigung fanden, die eine jüdische Mutter - und fast immer - einen jüdischen Vater hatten.

Für weitere kleine Irritationen sorgt der Umgang mit dem Philosophischen. Denn der Publizist Theodor Herzl, der Essayist und Industrielle Walther Rathenau, der Historiker Simon Dubnow oder der um die Wiedergeburt des Hebräischen bemühte Eliezer Ben-Jehuda waren sicher keine Philosophen im Zunftsinn, wie überhaupt die Zahl jener intellektuellen Profile, in denen Menschen vorgestellt werden, die im weitesten Sinn über das Judentum "dachten", wesentlich größer ist als die der Philosophen von Profession, so daß der Titel des Lexikons über seinen Inhalt nicht korrekt informiert.

Daß man anhand ihrer eigener Kriterien generell mit den Herausgebern über die Auswahl streiten kann, liegt in der Natur der Sache. Gleichwohl darf man anmerken, daß unselbständige neokantianische Formalisten wie Benzion Kellermann, Albert Lewkowitz oder der radikale Zionist Jacob Klatzkin sicher von keinem Leser vermißt worden wären. Vielfach hätte man von manchen Bearbeitern auch mehr Distanz einfordern müssen. Denn besonders peinlich fällt der nahezu hagiographische Artikel von Pierre Bouretz über den maßlos überschätzten Emmanuel Lévinas (1905 -1995) ins Auge, der auf eine pure Wiederholung von dessen gutmenschlichen Platitüden ("Sorge um das Unendliche im Antlitz des Anderen" und dergleichen) hinausläuft. Und auch von Christian Wiese hätte man sich eine weniger affirmative Darstellung des von der bundesdeutschen politischen Klasse gern reklamierten Hans Jonas (1903- 1993) gewünscht.

Ungeachtet solcher Ausnahmen gebietet die Fairneß, dem Gros der Bearbeiter zu attestieren, daß sie die Kraft zur Kritik aufbringen. Und zwar nach der Regel: Je länger ein jüdischer Denker tot ist, desto unbefangener fällt das Urteil über Person und Werk aus. Nicht weiter verwunderlich ist es dann, wenn die Jahrgänge ab 1860 als die "Generation Herzl" mit aktualisierenden Wertungen präsentiert werden. "Israel" und der "Holocaust" geben hier die Bezugspunkte ab und werden vor allem von Micha Brumlik, der leider so wichtige Denker wie Sigmund Freud, Franz Rosenzweig, Ernst Bloch, Walter Benjamin, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und Hannah Arendt übernehmen durfte, kräftig schuriegelnd traktiert. Ernst Bloch sei "eindeutig einer antijudaistischen Lesart der Bibel verpflichtet", stimme mit antisemitischen Doktrinen des "völkisch-arischen Christentums" partiell überein und benutze in seiner antijüdischen Kritik "beinahe" die "gleichen Worte" wie der "nationalistische Publizist" Ernst Jünger. Das ist durchaus richtig gesehen, wird von Brumlik aber nicht erklärt.

Immerhin ist nicht nur Brumlik zugute zu halten, daß solcherart moralisierende Fahndungsarbeit mehr oder weniger unbeabsichtigt die sich jedem politischen Vereinnahmungsversuch sperrende Heterogenität jüdischen Denkens zutage fördert. Gerade wer die von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart reichenden Porträts aufmerksam studiert, dürfte von volkspädagogisch korrekten Ausbeutungen "des" Judentums fortan wenig beeindruckt werden. Denn dagegen stehen, unter vielen, etwa der "typisch jüdische Faschist" (Thomas Mann) Oskar Goldberg (1885-1952) ebenso wie Jeshajahu Leibowitz (1903 -1994), der die religiöse Bedeutung von Zionismus und Holocaust konsequent bestritten hat und den Matthias Morgenstern geradezu unterkühlt sachlich porträtiert.

Der Wolfenbütteler Philosophiehistoriker Friedrich Niewöhner hat über dieses Lexikon unlängst geurteilt, nicht einmal im Hebräischen gebe es ein derartig umfassendes und gründliches Werk, es sei ein "Meilenstein" der Philosophiegeschichte (FAZ vom 21. Februar 2005). Trotz aller Einwände und ungeachtet der Tatsache, daß Niewöhner hier ein Werk rezensierend lobt, an dem er selbst beteiligt ist, muß man ihm beipflichten. 

Andreas B. Kilcher, Otfried Fraisse unter Mitarbeit von Yossef Schwartz (Hrsg.): Metzler Lexikon Jüdischer Philosophen. Philosophisches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2004, 476 Seiten, gebunden 64,95 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen