© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/05 01. April 2005

CD: Klassik
Letzte Worte
Jens Knorr

Dieses Album mit dem Fragment von Mozarts "Requiem" KV 626 (BMG/Deutsche Harmonia Mundi 82876 58705 2, SACD) sollte zuerst am Rechner gehört werden. Es enthält nämlich neben dem üblichen Audio- noch einen CD-Rom-Track, auf dem das Original von Mozarts Hand, wertvollstes Stück der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, zeitgleich mit der erklingenden Musik als Flash-Animation zu sehen ist. Das Umblättern übernimmt das Programm.

Es ist gar nicht so einfach, die Handschrift dessen, der angeblich immer nur noch aufschreiben mußte, was er in seinem Kopf bereits fix und fertig auskomponiert hatte, von den Handschriften seiner Schüler zu unterscheiden. Introitus und Kyrie sind nach der sogenannten "Ablieferungspartitur", die Constanze Mozart dem Auftraggeber "abgeliefert" hat; wiedergegeben, Sequenz und Offertorium nach der sogenannten "Arbeitspartitur", den Fragmenten, die Franz Xaver Süßmayr sich kopiert und wahrscheinlich nach "Zettelchen" und mündlichen Anweisungen Mozarts zu einem verkäuflichen Ganzen verarbeitet hat, peinlich darauf bedacht, die Handschrift des Lehrers zu imitieren.

Was Joseph Eybler, dem von Constanze zuerst Beauftragten, gar nicht gelang und Süßmayr mehr schlecht als recht, das bleibt auch uns Nachgeborenen versagt: in die Chorstimmen mit Generalbaß einen vollständigen Instrumentalsatz hineinzulesen und eine vollendete Komposition herauszuhören. Wir lesen uns in das Arbeitsmaterial zu einem Werk ein, das lange vor Schluß abbricht, und das nicht einmal an einer Stelle, die der Legendenbildung günstig wäre.

Nicht die ersten acht Takte des Lacrymosa - eine der herzergreifendsten Klagen in der gesamten Chorliteratur - und auch nicht die Worte "Faceas, Domine, de morte transire ad vitam" sind die letzten, die der Sterbende geschrieben hat, sondern die ganz profane Wiederholungsanweisung "quam olim / d: C:" in der unteren rechten Ecke des letzten beschriebenen Blattes, die 1958 auf der Weltausstellung in Brüssel herausgerissen und gestohlen wurde.

Doch es erklingt mehr, als zu sehen ist. So puristisch sind Nikolaus Harnoncourt, sein Concentus Musicus Wien und der Arnold-Schönberg-Chor (Chormeister: Erwin Ortner) nicht eingestellt, als daß sie ausschließlich die von Mozart geschriebenen Noten gelten ließen. Der Audio-Track bietet selbstverständlich das von Süßmayr komplettierte Requiem in der kritischen Neuausgabe von Franz Beyer, stellt doch Süßmayrs Neukomposition - Christoph Wolff zufolge - "die einzige Quelle überhaupt dar, die die Chance in sich birgt, von Mozart stammendes Gedankengut (...) aufzudecken".

In dem Konzertmitschnitt aus dem Großen Saal des Musikvereins Wien von 2003 hilft Harnoncourt diskret dem Süßmayr zu Mozart hinauf, ohne daß der Mozart auf den Süßmayr herunterkommt. Weniger didaktisch als in seiner frühen Einspielung des Requiem legt Harnoncourt nun die musikalische Faktur in einer Art und Weise offen, die an eine äußerste Grenze rührt.

Die Klarheit des Musizierens, die unerhörten, aber immer nachvollziehbaren Differenzierungen des Ausdrucks, das fast vibratolose Singen von Chor und Solisten Christine Schäfer, Kurt Streit, Gerald Finley und - mit leider doch viel Vibrato - Bernarda Fink, der klagende Gestus von Bassetthörnern und Fagotten, der dreinfahrende der Posaunen, die Weltverlorenheit des "Confutatis", die Bitte des "Recordare", der fast brahmssche Reigen des "Hostias", Furcht und Hoffnung sich abwechselnd oder in einem Klangbild vereint - allhier teilt sich nicht schlechthin der Komponist mit, hier überliefert sich der Mensch schutzlos, nackt dem Gericht. Zuhören!


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