© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/05 01. April 2005

Das Lächeln unter Tränen hörbar machen
Was die Gegenwart zu Pogromen und Freidenkertum sagt: Das Musical "Anatevka" und der russische Dichter Alexander Solschenizyn
Walter Thomas Heyn

Das 1964 uraufgeführte Musical "Anatevka" nach einer Novelle von Sholem Alejchem (1859-1916) hatte vor einigen Tagen im Landestheater Neustrelitz Premiere. Regisseur Jürgen Pöckel lieferte eine stimmige, figurenbezogene und durchaus differenzierte Inszenierung ab. Er hielt es aber nicht für besonders notwendig, die spärlichen Text-Aussagen des Stückes zum Hintergrund der zaristischen Politik gegenüber den Juden zu verdeutlichen, und auch im Programmheft findet sich darüber kein erklärendes Wort.

Der historische Prozeß, der in dem Stück beschrieben wird, beginnt nach der dritten Teilung Polens: Fünf Millionen Juden unterstehen ab sofort dem russischen Zaren. Obwohl die Juden 57 Prozent der Bevölkerung ausmachen und in fast allen Städten die Mehrheit der Bevölkerung bilden, werden sie grausam unterdrückt. In der zaristischen Praxis ging das so: Entweder gaben die Behörden einen Ukas heraus, daß "Ruhe und Ordnung" zu herrschen habe. Dann war jede Art von Übergriffen verboten. Oder aber der Ukas lautete, daß "man dem berechtigten Zorn der unteren Schichten freien Lauf lassen möge". In diesem Falle hatten Polizei und Armee Pogrome zu organisieren.

Die Glanzstücke des Abends sind Tevjes (Sigurd Karnetzki) Gespräche mit Gott, mit seiner granteligen Frau Golde (Bettina Mahr) und seine vergeblichen Versuche, die Tradition zu bewahren, also die Regeln der alten Zeit zu befolgen und in der Familie durchzusetzen. Darüber hinaus liefert er sich brillante Wortgefechte mit dem Wachtmeister (Günter Menzel), und natürlich zelebriert er wirkungsgewiß "sein" Lied.

Die drei Töchter schlagen alle aus der Art

Aber die drei Töchter des geplagten Vaters schlagen trotzdem alle aus der Art: Zeitel, die Älteste (Larysa Molnárová) will nicht den von der Heiratsvermittlerin Jente (die wunderbare Gabriele Borowy) ausgesuchten Fleischer Lazar Wolf (Andrew Costello), sondern den armen Schneider Mottel Kamzoil (Tomasz Dziecielski) heiraten, was Tevje zwingt, in einer großangelegten, wunderbar doppelbödigen Traumszene die tote Ur-Oma Zeitel (Gabriele Thomann) aus dem Jenseits auferstehen zu lassen, um den neuen Schwiegersohn einzuführen, was wiederum zu einem handfesten Dorfkrach führt.

Die zweite Tochter Hodel (Katharina Wingen) verliebt sich in den Lehrer und Sozialrevolutionär Perchik (Hardy Lang), dem sie nach seiner Verurteilung nach Sibirien folgt. Die dritte Tochter Chava (Rebekah Nye) heiratet gegen den erklärten Willen des Vaters den jungen Russen Fedja (Max Haupt) und konvertiert zum Christentum.

Insgesamt gelang es dem Darsteller-Ensemble fast durchgehend, die verzehrende Melancholie und zugleich die eindrucksvolle Kraft der Melodien singend und tanzend ebenso zu erspüren, wie das "Lächeln unter Tränen" sicht- und hörbar zu machen, eine Bühnen-Tugend, die eine solche Geschichte unbedingt braucht, um nicht in den Kitsch abzugleiten. Dafür sorgte auch der junge Dirigent Jens Troester, der die Musiker der Neubrandenburger Philharmonie souverän durch die stilistisch vielschichtige Partitur lenkte und im Finale Solisten, Chor und Orchester eine beklemmende Intensität abgewann, die lange nachwirkt.

So weit zum Stück. Was aber sagen russische Stimmen der Gegenwart zu der insgesamt vielschichtigen russisch-jüdischen Gemengelage? Alexander Solschenizyn, 1918 in Kislowodsk geboren, nach Verbannung und Straflager seit 1974 im amerikanischen Exil lebend und 1994 nach Rußland zurückgekehrt, hat in seiner breitangelegten Untersuchung "Zweihundert Jahre zusammen" die russisch-jüdische Geschichte von 1795-1916 eingehend untersucht. "Ich bin aufrichtig bemüht, beide Seiten zu verstehen. Deshalb tauche ich in die Ereignisse ein, nicht in die Polemik. Ich will etwas zeigen. Ich beginne nur in jenen unvermeidbaren Fällen zu streiten, wo die Wahrheit durch die Unwahrheit verdeckt ist. Ich wage zu hoffen, daß das Buch nicht den Zorn der Radikalen und Unversöhnlichen hervorrufen wird, sondern im Gegenteil der gegenseitigen Verständigung dienen wird", schreibt er im Vorwort.

Wer die Wahrheit sucht, möge Solschenizyn lesen

Dann widmet er über einhundert Seiten der Darstellung der teilweise verzweifelten Bemühungen der russischen Regierung, die jüdische Bevölkerungsanteile zu Ackerbau und Viehzucht zu bewegen. Aber "das Gros der Juden in Deutschland mied die Landwirtschaft. Die jüdischen Handwerker waren meist Schneider, Schuster, Uhrmacher und Juweliere, später Geldwechsler, Pächter und Schankwirte."

Dieses historische Geschehen ist die Folie des Theaterstückes und der ersten Heiratsgeschichte. Die jüdische Angst vor staatlicher Erziehung bildet den Hintergrund der zweiten Heiratsgeschichte. Selbst der bettelarme Milchmann Tevje schickt seine Töchter nicht in die staatliche Schule als einer Brutstätte des Freidenkertums, sondern engagiert einen Privatlehrer, der natürlich "revolutionäre" Ideen in das Dorf und in die Köpfe der Mädchen bringt.

Solschenizyn beschreibt aber auch die Abgrenzungsbemühungen der jüdischen Seite. "Ich erinnere mich gut an die Zeit, in der meine Glaubensbrüder es für eine Sünde hielten, die russische Sprache zu erlernen, und nur wenn nötig benutzten sie diese, und auch nur ausschließlich im Umgang mit den Gojim (also den Russen). Dies war eine Reaktion auf die Regierungspolitik. Denn damals betrachteten die russischen Behörden den Umgang mit der russischen Jugend als zuverlässigstes Mittel, um die Feindschaft gegen die Christen unter ihnen auszutilgen ... Der plötzliche Tod des Zaren Nikolaus I. befreite die Juden von allerlei Repressionen, wie es ein Jahrhundert später der Tod Stalins tat."

Das Theaterstück bietet solide Unterhaltung. Wer die ganze verwickelte Wahrheit sucht, möge Solschenizyns Buch lesen. 

Die nächsten Vorstellungen des Musicals finden am 1./ 2./ 23. April jeweils um 19.30 Uhr im Großen Haus des Landestheaters, Friedrich-Ludwig-Jahn-Str. 14, statt.

Das Buch von Alexander Solschenizyn ist 2002 im Herbig-Verlag, München, erschienen.


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