© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/05 08. April 2005

Eine Träne für die Antihelden
Institution Musiktheater
Jens Knorr

Vor drei Jahren, vierzehn Jahre nach Abgabe des Manuskripts, erschien das erste Buch des 1939 geborenen Berliner Musikwissenschaftlers Gerd Rienäcker "Richard Wagner. Nachdenken über sein 'Gewebe'" unverändert, als ein historischer Text. Nicht ganz so lange hat es gebraucht, um einige neuere Arbeiten Rienäckers allgemein verfügbar zu machen. Gerd Rienäcker lehrte von 1966 bis 1996 am Institut für Musikwissenschaft der Berliner Humboldt-Universität und nimmt heute Lehraufträge verschiedener Universitäten wahr. Musikwissenschaft lehren - genauer: Musiktheaterwissenschaft - heißt für Rienäcker, Forschungsergebnisse einem kritischen Auditorium aussetzen, heißt, Schichtungen akribisch auseinanderlegen, das Zusammensetzen dem mündigen Leser anheimstellend.

In den 25 Aufsätzen, Thesen, Notaten fragt Rienäcker nach Gattungen, Werken, Komponisten der Oper, Operette, des Musiktheaters, nach szenisch-musikalischen Vorgängen in der Partitur und auf der Bühne - und immer nach den Vorgängen hinter den Vorgängen, weit über die Institution Musiktheater hinaus. Ganz im Sinne der Thesen Heiner Müllers zur Oper geht es Rienäcker um Kunstexperiment als Gesellschaftsexperiment. Um unsertwillen also ist der Unsinn der Oper als Einspruch gegen bürgerliche Rationalität zu verteidigen, die sie doch gleichwohl vollstreckt, ist das Ineinander von prosaischer Wirklichkeit, Utopie und Illusion auseinanderzulegen, ist den gebrochenen Opernhelden und Antihelden, heißen sie Pizarro, Hermann, Jago, Alfio und Turridu, Beckmesser gar, mehr als nur eine Träne nachzuweinen - denn auch wenn sie letzterem der Komponist verweigert: seine Musik verweigert sie ihm nicht.

Obwohl zuerst als Handreichungen für die im und am Musiktheater Arbeitenden gedacht, lassen sich Rienäckers Aufsätze darauf nicht reduzieren. Die auf "Pique Dame" gemünzte Bemerkung von dem "Bündel von Brühwürfeln" gilt gleichermaßen für die Texte selbst, mit denen noch viele Suppen zubereitet werden dürften. Der Leser muß sich nur auf jenes produktive Staunen einschwören, das der Lehrer auch in finsteren Zeiten nicht preiszugeben bereit ist, um weiter nachzudenken über Lortzing, den "Offenbach unter deutschen Verhältnissen", die Wiener Operette im allgemeinen und "Gräfin Mariza" im besonderen, das Strauss'sche Spätwerk, das "Phänomen" Maria Callas, über Schwierigkeiten und Möglichkeiten des Operninszenierens nach Ruth Berghaus, über Waren- und Wertkritik überhaupt - "im Blick zurück nach vorn".

So unterschiedlich ihre Themenbereiche auch erscheinen mögen: Alle diese Aufsätze tragen zu einer - Rienäckers persönlicher - Musikgeschichte der DDR bei. Nicht nur einmal ist der große Georg Knepler aufgerufen, an versteckter Stelle und endlich auch geradeheraus in einer bewegenden Widmung, die Rienäcker seinem Versuch "Musiktheater im Zeichen Bertolt Brechts?" nachgestellt hat. Wer für "Welt-Verhalten" - im Plural! - votiert, "die sich der Anstrengung des Gedankens und Begriffs, der - wie auch immer mühseligen, schmerzhaften - Erkenntnis nicht verweigern", dem gehen viele Wege von Brecht und dessen wandelbarem Theater aus, das bekanntlich Anfänge provoziert, und dem führen mancherlei Wege zu Ruth Berghaus und ihrem Theater hin, dessen Zeit kommen wird.

Weil sie der Unsicherheit das Wort geben, will Rienäcker fast jedem Satz seiner Texte unsichtbare Fragezeichen beigesellt wissen. Sein Glaube an die Oper allerdings steht außer Frage.

Gerd Rienäcker: Musiktheater im Experiment. Fünfundzwanzig Aufsätze. Lukas Verlag Berlin 2004, Broschur, 283 Seiten,19,80 Euro


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