© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/05 08. April 2005

Seefahrt ist nicht mehr not
Der Bremerhavener Schiffahrtshistoriker Ingo Heidbrink präsentiert einen Abgesang auf die deutsche Hochseefischerei
Stefan Leidereiter

Es gibt einen deutschen Sonderweg. Aber das ist nicht jene Prachtstraße, die angeblich von Luther, mindestens aber von Bismarck stracks zu Hitler geführt hat. Viel bescheidener zwar, auf einem Trampelpfad nur, aber immerhin, hätten die Deutschen ihren Sonderweg betreten, den man rückblickend nur als "historische Abnormalität" begreifen könne. Gemeint ist die "Sonderentwicklung" einer deutschen Hochseefischerei, die um 1886 begann und genau einhundert Jahre später Episode war.

Dieses Ende von "Abnormalität", gleichbedeutend mit dem Verlust Tausender Arbeitsplätze und der ökonomischen Misere in den Fischereistandorten der Nordseeküste, beschreibt der Bremerhavener Schiffahrtshistoriker Ingo Heidbrink in seiner an der Universität Bremen eingereichten Habilitationsschrift zur Geschichte der deutschen Hochseefischerei folgerichtig als "Normalisierung". Eine dialektisch durchaus pfiffige Deutung, mit deren Hilfe man überhaupt dem aktuellen wirtschaftlichen Niedergang des "Standorts Deutschlands" etwas Tröstliches abgewinnen könnte: "Normalisieren" wir uns eben auf vorindustriellem Niveau, zumal es, gemessen an der Menschheitsgeschichte bis 1900, ohnehin "abnormal" ist, Auto zu fahren, zu fliegen oder zu telefonieren.

Läßt man diese bizarre Normalisierungsthese Heidbrinks einmal auf sich beruhen, dann liegt mit seiner vom Verlag aufwendig ausgestatteten, reich und farbig bebilderten Arbeit eine solide und überzeugende Studie zur maritimen Wirtschaftsgeschichte vor. Dabei stellt der Autor sein Licht mit dem Untertitel - "Die deutsche Hochseefischerei und die Fischereikonflikte des 20. Jahrhunderts" - sogar noch unter den Scheffel. Denn die zwischen 1970 und 1975 ausgetragenen Fischereikonflikte, samt Vor- und Nachgeplänkel, dominieren die Darstellung nicht in dem Ausmaß, wie es der Untertitel verheißt. Was Heidbrink statt dessen primär bietet, ist eine allenfalls von einigen stilistischen Ausrutschern ("in den Fokus nehmen") verunzierte, sonst aber höchst respektable Chronik der Hochseefischerei. Darin spielen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Fischer auf Kuttern und Trawlern allerdings kaum eine Rolle. Entscheidend sind die ökonomischen, schiffstechnischen und völkerrechtlichen Schachzüge im Kampf um die Nahrungsressource Fisch, vornehmlich im Nordatlantik.

Technisch war der Zugriff auf die fernen Fanggründe um Island und vor Grönland Ende des 19. Jahrhunderts möglich, als die ersten Fischdampfer neben den segelnden Ewer auftauchten. Und erst nach der Gründung des Deutschen Reiches entstand ein hinreichend großes Absatzgebiet, zumal in den expandierenden Industriezentren, wo die Nachfrage nach dem billigen "Volksnahrungsmittel" Fisch kräftig anzog.

Der Zugang zu den Fischoasen in der weiten Wasserwüste des Nordatlantik stand der schnell wachsenden deutschen Fischdampferflotte ungehindert offen. Island war eine Kolonie Dänemarks, und in Kopenhagen sah man sich außerstande, diesen Reichtum selbst auszubeuten. Aber selbst wenn die Dänen eine eigene Flotte aufgebaut hätten, wären die langjährigen Hauptnutznießer dieses Meeressegens, Deutsche und Engländer, nicht auszusperren gewesen. Denn völkerrechtlich galt der von Hugo Grotius im 17. Jahrhundert postulierte Grundsatz von der "Freiheit der Meere". Die seit dem 18. Jahrhundert den Anrainerstaaten zugestandene nationale Hoheit über die See endete mit der "Kanonenschußweite" an der Drei-Meilen-Grenze. Ein dänisch-isländisches Ausbeutungsprivileg, das sich ja auf diese schmale Zone hätte beschränken müssen, wäre angesichts küstenfern gelegener Fischgründe aber wertlos gewesen. Folglich verbesserten sich die Fangresultate deutscher Trawler vor Island, unterbrochen nur durch den Ersten Weltkrieg, von Jahr zu Jahr. 1920 betrug die Gesamtfangmenge 43.000 Tonnen, 1938 hatte sie sich, im Zeichen der nationalsozialistischen Autarkiepolitik, auf 140.000 Tonnen mehr als verdreifacht.

Als Island 1944 seine Unabhängigkeit ertrotzt hatte, begannen sich die Verhältnisse zum Nachteil europäischer Fernfangflotten zu ändern. Da die junge Republik nahezu ausschließlich von der Fischerei abhängig war, verfolgte Reykjavik beharrlich die Politik der Ausdehnung nationaler Souveränität in Richtung Hochsee. 1952 erweiterte man die Drei- auf die Vier-Meilen-Zone, was die Fangerfolge der modernen bundesdeutschen Trawlerflotte aber kaum beeinträchtigte. Schmerzhafter war die Verschärfung des isländischen Protektionismus, als 1958 die Zwölf-Seemeilen-Grenze deklariert wurde.

Eine technische Innovation, schon vor 1939 erprobt, kompensierte diese Einbuße: Die deutschen Reedereien gaben den Bau von Fang-Fabrikschiffen in Auftrag, "Vollfrostern", die den gesamten Fang auf hoher See verarbeiten und tieffrieren konnten. Damit war der Weg zu den entlegenen Fischgründen Neufundlands frei, und für die deutsche Hochseefischerei begann eine letzte "Blütezeit". Sie endete Anfang der siebziger Jahre, als auch Kanada zum Protektionismus übergegangen war und gleichzeitig der in den Entwicklungsländern erhobene Anspruch auf 200 Meilen umfassende "Ausschließliche Wirtschaftszonen" das internationale Seerecht revolutionierte.

Island schob seine Hoheitsgewässer 1972 auf 50 Meilen hinaus, führte einen häßlichen "Kabeljaukrieg" gegen britische und deutsche Trawler, konnte seine Ansprüche juristisch zunächst nicht durchsetzen, blieb aber auf lange Sicht Sieger. 1975 brachte dann die Einhegung der 200-Meilen-Zone den faktischen Ausschluß aller fremden Fischereifahrzeuge von Islands Fischgründen. Kanada zog 1977 nach, vollendete die Nationalisierung des Nordatlantik und läutete damit das Ende der westdeutschen Hochseefischerei ein, während die - nach 1989 abgewrackten oder verkauften - DDR-Fabrikschiffe noch vor den Küsten von "Bruderstaaten" wie Kuba und Angola halbwegs erfolgreich operierten.

Bundesdeutsche Pläne, sich mit dem krabbenähnlichen Krill in antarktischen Gewässern neue Fischreserven zu erschließen, muten aus heutiger Sicht hingegen nur noch wie ein Satyrspiel an. Was Heidbrink dann für die achtziger Jahre "Umstrukturierung" nennt, war tatsächlich eine Liquidation. Nach hundert Jahren Geschichte der Hochseefischerei war man in Cuxhaven und Bremerhaven wieder auf die Ausgangsposition zurückgeworfen: "auf eine mehr oder minder nahe küstennahe Fischerei von begrenzter lokaler wirtschaftlicher Bedeutung". Was ohne Fernfischereiflotte dieser Nordseeregion noch geblieben ist, das sei "Fischverarbeitung und Distribution". So sei der Fisch weiterhin wichtig für die "ökonomische Identität der Region". Optimistisch blickt Heidbrink über Ruinen und Wracks in die Zukunft: Nur weil ein Element aus der gesamten Fischwirtschaft durch eine neue internationale Aufgabenteilung entfallen ist, "sollte es keinen Grund geben, diese Identität generell in Frage zu stellen".

Foto: Nordseefischer in den fünfziger Jahren: Letzte Blütezeit

Ingo Heidbrink: "Deutschlands einzige Kolonie ist das Meer!" Die deutsche Hochseefischerei und die Fischereikonflikte des 20. Jahrhunderts. Convent Verlag Hamburg und Deutsches Schiffahrtsmuseum Bremerhaven 2004, 260 Seiten, Abb., 39,90 Euro


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