© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/05 08. April 2005

Geschichte eines politischen Mißerfolgs
Matthias Stickler analysiert die Rolle der deutschen Vertriebenenverbände zwischen 1949 und 1972
Christoph Zarse

Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und aus Ostmitteleuropa hat die deutsche Gesellschaft so fundamental verändert wie nicht viele Ereignisse der neuzeitlichen Geschichte. Es galt lange Zeit als ungeschriebenes Tabu der Geschichtswissenschaft, sich intensiv mit dieser Thematik und den Folgen zu befassen. Ideologische Vorbehalte und der Vorwurf des wissenschaftlich belegbaren Revisionismusansatzes fungierten als unüberbrückbare Hindernisse zur breit angelegten, dringend notwendigen Aufarbeitung der Geschehnisse während und nach der gewaltsamen Heimataufgabe. Glücklicherweise markierten die späten neunziger Jahre diesbezüglich eine Trendwende, da seitdem die Vertreibungs- und Vertriebenengeschichte nicht nur durch die populärhistorische Verarbeitung Guido Knopps enorm an Bedeutung gewonnen hat.

Eine umfassende, gleichzeitig überzeugende und sehr lesenswerte Analyse der Vertriebenenverbände liefert die Habilitationsschrift Matthias Sticklers "Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch". Einer chronologischen Darstellung der ersten Versuche zur Gründung einer Interessengemeinschaft der Vertriebenen in den direkten Nachkriegsjahren trotz des prägenden auferlegten Koalitionsverbotes folgt die Präsentation der beiden Ebenen der späteren Verbandsarbeit. Der geglückten Integration der Vertriebenen trotz der Skepsis in der Nachkriegsgesellschaft Westdeutschlands stand dabei die Mißerfolgsgeschichte der heimatpolitischen Zielsetzung gegenüber, also der Wiedereingliederung der Ostgebiete in den deutschen Staatsverband samt Rücksiedlung aller Vertriebenen.

Stickler kommt sogar zu dem generellen Fazit, die Vertriebenengeschichte als eine Geschichte des politischen Mißerfolgs zu charakterisieren. In diesem Kontext wird signifikant herausgestellt, inwiefern persönliche Interessen der handelnden Verbandsfunktionäre allzuoft in die Verbandsarbeit einflossen, was der geschlossenen Artikulation eines einheitlichen politischen Willens kontraproduktiv entgegenwirkte. Als sich erst Ende der fünfziger Jahre die Vertriebenen zu einem gemeinsamen Verband zusammenschlossen, war die Nachkriegsgesellschaft bereits derart positioniert, daß für die Vertriebenen nur das Prädikat der "zu spät Kommenden" übrigblieb und der politische Spielraum dadurch deutlich begrenzt war.

Anhand thematischer Schwerpunkte wird im weiteren Verlauf das sukzessive Scheitern der heimatpolitischen Zielsetzung der Vertriebenenverbände aufschlußreich demonstriert. Das Handeln der Vertriebenen war dabei stets defensiv retardierend statt offensiv gestaltend. Als zentrales Problem erkennt Stickler, daß eine umfassende ostpolitische Konzeption als Gegengewicht zur Außenpolitik der Bundesregierung fehlte. Die Zielsetzung, eine Ergänzungsbürokratie in der Deutschland- und Ostpolitik zu etablieren und somit erfolgversprechend auf die Netzwerke der Bundesregierung einzuwirken, scheiterte ebenso wie die politischen Versuche, durch die Schaffung eines ost-deutschen Parlamentes eine Art Exilregierung zu installieren.

Darüber hinaus mißlangen Versuche des BdV, durch eine Kontaktaufnahme zu Exilvertretungen osteuropäischer Staaten oder ähnlicher Auslandsorganisationen wie der französischen Anfanoma internationale Bedeutung zu erlangen. Die sich abzeichnende Konkurrenz zwischen den reichsdeutschen und den habsburgischen Landsmannschaften verschärfte dabei das Bild, daß eine geschlossene Außendarstellung nur selten erreicht werden konnte. Der eigene Anspruch der Vertriebenen, durch das "Handeln als nationale Avantgarde" die Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937 - oder darüber hinaus - durch kontinuierliche öffentliche Artikulation voranzutreiben, scheiterte zum einen an dieser fehlenden Geschlossenheit, zum anderen an den falschen Ansatzpunkten der politischen Arbeit. So stellt Stickler anhand von drei prägnanten Konflikten Anfang der sechziger Jahre fest, daß der BdV sich in eher unbedeutenden, aber trotzdem hart geführten Auseinandersetzungen mit Albrecht von Kessel, Golo Mann und der evangelischen Kirche derart aufrieb, daß die weitaus wichtigere politische Konzeption in den Hintergrund geriet. Das Ergebnis dieser Politik des "Helm-fester-Bindens" war vielmehr ein Abdriften der Vertriebenenverbände an den Rand der Gesellschaft - man bezeichnete die Vertriebenen verächtlich als "reaktionäre Entspannungsfeinde" - , was dem eigenen Anspruch als nationale Avantgarde diametral gegenüberstand.

Trotzdem wuchs die Bedeutung des BdV nach Verdrängung des Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) von der politischen Bühne aufgrund des als enorm eingestuften Wählerpotentials. Stickler demonstriert überzeugend, daß die politischen Parteien Anfang der sechziger Jahre von den immer noch beeindruckenden öffentlichen Massenkundgebungen der Vertriebenen derart beeinflußt wurden, daß ein wahrer Wettlauf um die Gunst des BdV begann. Entgegen weitläufiger Annahme konnte die SPD diesen Wettlauf einige Jahre für sich gewinnen. Unter der Führung des charismatischen Wenzel Jaksch tendierte der BdV nach 1963 zu den Sozialdemokraten, bis deren kurzzeitige, scheinbar deutschnationale Orientierung durch das Konzept der Neuen Ostpolitik abgelöst wurde. Die Vertriebenenverbände fühlten sich allerdings danach so sehr von den Sozialdemokraten verraten, daß ab Anfang der siebziger Jahre der BdV zu einem politischen Anhängsel der Unionsparteien degenerierte und seinen überparteilichen Anspruch verlor.

Diese Entwicklung verlief parallel zur sinkenden Bedeutung der Vertriebenenverbände aufgrund ihrer Erfolge in integrationspolitischer Hinsicht in den fünfziger Jahren. Von der anfänglichen Strategie des "Wartens auf gepackten Koffern" hatten sich die anfangs kritisch beäugten und ausgegrenzten Vertriebenen zu gleichberechtigten Deutschen in der Bundesrepublik entwickelt. Die geglückte Integration ging einher mit dem Scheitern der heimatpolitischen Zielsetzung. Bis auf die jährlichen Treffen der Landsmannschaften, bei denen man die alte Mundart und die alten Sitten und Bräuche pflegte, orientierte sich der Großteil der Vertriebenen nicht mehr der alten Heimat zu.

Das von Herbert Czajas Anfang der siebziger Jahre präsentierte Konzept wird von Stickler als neuartige Möglichkeit bezeichnet, eine gemeinsame europäische Verantwortung für die Ostgebiete zu schaffen. Inwiefern es allerdings zu einer echten und realistischen Alternative zur Neuen Ostpolitik und damit zum alten nationalstaatlichen Denken hätte werden können, läßt der Autor offen. Ob der pessimistische Ausblick am Ende des Buches auf die noch unerforschten Jahre nach 1972 zutrifft, wird die Forschung noch hervorzubringen haben. Da die Thematik bis zur Wiedervereinigung nur noch phasenweise eine Rolle spielte und auch 1989/90 die erarbeiteten Alternativen zur bedingungslosen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie nicht durchgesetzt werden konnten, ist eine in die Gegenwart andauernde Kontinuität der Tradition der Vertriebenenverbände wahrscheinlich.

Foto: Schlesier beim "Tag der Heimat" 1967 in Berlin: Politik des "Helm-fester-Bindens" ließ politische Konzeptionen in den Hintergrund treten

Matthias Stickler: "Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch". Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-1972. Droste Verlag, Düsseldorf 2005, 511 Seiten, geb., 39,50 Euro


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