© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/05 08. April 2005

Nationales Dilemma für die Internationalisten
Die Sozialdemokratie in der Tschechoslowakei vor 1945 beschäftigte der deutsch-tschechische Gegensatz stets mehr als der Klassenkampf
Ekkehard Schultz

Einst war sie als bewußt international organisierte Partei angetreten, die Sozialdemokratie in den österreichischen Kronländern Böhmen und Mähren, um auf gemeinschaftlicher Ebene eine Verbesserung der Situation des sich Ende des 19. Jahrhunderts rasch vermehrenden Arbeiterstandes zu erreichen. Und doch wurden innerhalb weniger Jahrzehnte die sudetendeutsche und tschechische Sozialdemokratie - nicht nur in der Frage der Vertreibung der Deutschen nach 1945 - geradewegs zu Antipoden. Was waren die Ursachen für diese Entwicklung?

Früh dominierte der deutsch-tschechische Sprachenstreit

Auf diese Frage ging eine Vortragsveranstaltung der Sudetendeutsche Gesellschaft ein, die Ende März in den Räumen der Bayerischen Landesvertretung in Berlin stattfand. Teilnehmer waren der Studienleiter der Europäischen Akademie, Jaroslaw Sonka, und Ulrich Miksch, Journalist bei der Neuen Zürcher Zeitung. Sonka wies gleich zu Beginn seines Vortrages darauf hin, daß es trotz aller nach außen demonstrierten Internationalität bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhundert Spannungen zwischen deutschen und tschechischen Sozialdemokraten in Böhmen und Mähren gegeben habe - besonders zur Frage der Verwaltungssprache. So habe sich die Forderung nach Gleichberechtigung der deutschen und tschechischen Sprache als Voraussetzung des Zugangs zu öffentlichen Ämtern bei den Tschechen einer allgemeinen Popularität erfreut, wogegen sie bei den deutschen Sozialdemokraten zunächst eher als nebensächlich erachtet wurde. Die Gründung einer nationalen "tschechoslowakischen" Sektion der Sozialdemokraten im Jahr 1878 sei daher eine nahezu zwangsläufige Entwicklung gewesen; ebenso wie die Etablierung der tschechischen nationalsozialistischen Partei im Jahr 1897, die die grundsätzlichen sozialdemokratischen Forderungen mit einer noch deutlicheren Betonung des nationalen Elementes verband.

Zwar habe der Beschluß des Brünner Nationalitätenprogramms der Sozialdemokraten von 1899 auf innere Spannungen wie auf die Zunahme des bürgerlichen deutschen und tschechischen Nationalismus in Böhmen reagiert und zunächst zur Beruhigung beigetragen. Doch die Besetzung Bosnien-Herzegowinas im Jahr 1908 hätte bei den Tschechen eine deutliche Solidarität mit den "slawischen Brüdern" ausgelöst. Eine noch größere Belastungsprobe sei jedoch die Zustimmung der reichsdeutschen Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten von 1914 gewesen, die bei den tschechischen Sozialdemokraten ein deutliches Unbehagen erzeugt hätte, was auch die Befürworter einer Zerschlagung Österreichs störte.

Besonders die Oktoberrevolution in Rußland von 1917 hatte unmittelbare Auswirkungen auf die böhmische Sozialdemokratie, so Sonka. Insbesondere in den Kreisen der tschechischer Soldaten, die im Weltkrieg auf russischer Seite kämpften, habe sich dieses Gedankengut rasch großen Zuspruchs erfreut. Nach der Heimkehr der Legionäre in den Jahren 1919/1920 konnten die Kommunisten innerhalb der Sozialdemokraten der nunmehrigen tschechoslowakischen Republik eine Mehrheit stellen.

Im Gegensatz zu den tschechischen Sozialdemokraten, die sofort nach Gründung der neuen Republik wesentliche Posten im Staatsapparat einnehmen konnten, vertraten die deutschen Sozialdemokraten in Prag zunächst die Forderung nach Selbstbestimmung. Doch ihre Demonstrationen wurden am 4. März 1919 in vielen sudetendeutschen Städten wie Kaaden, Falkenau und Karlsbad von tschechischem Militär blutig niedergeschlagen.

Seit Beginn der zwanziger Jahren hätten sich allerdings die deutschen Sozialdemokraten mit dem neuem Staat arrangiert. Die Bande zwischen den sudetendeutschen und tschechischen Sozialdemokraten, von denen letztere mehrfach den Ministerpräsidenten stellten, wurden wieder enger. Dies wurde nicht nur mit der Aufnahme von Ministern aus den Reihen der sudetendeutschen Sozialdemokraten im Jahre 1929 deutlich, sondern auch in der großen Solidarität mit Mitgliedern der reichsdeutschen SPD, die nach der Machtergreifung Hitlers in die Tschechoslowakei flüchteten.

Die folgende Phase wurde im Vortrag Ulrich Mikschs näher beleuchtet, der sich in erster Linie auf die Lebenserinnerungen des Vorsitzenden und Sprechers der sudetendeutschen Sozialdemokraten während der englischen Exilzeit, Wenzel Jaksch, stützte. Jaksch habe in den dreißiger Jahren eine sehr enge, freundschaftliche Beziehung zu Eduard Benes gepflegt. Die enge Zusammenarbeit habe sich auch darin gezeigt, daß die sudetendeutschen Sozialdemokraten mit ihren Stimmen am 18. September 1935 die Wahl Benes' zum Staatspräsidenten unterstützten. Im Gegenzug unterstützte Benes die Wahl Jakschs zum Parteivorsitzenden. Bei der Flucht von über 20.000 sudetendeutschen Sozialdemokraten in die noch autonome Tschechei nach der Besetzung der Sudetengebiete durch Deutschland im Herbst 1938 wurden sie von ihren tschechischen Gesinnungsgenossen unterstützt.

Nach Meinung Sonkas führten erst die endgültige Zerschlagung des tschechischen Staates im März 1939 und die folgende "Protektoratserfahrung" zu einer erneuten Radikalisierung. Innerhalb der tschechischen Sozialdemokratie hätten sich schnell die Auffassungen eines vorher eher bedeutungslosen Flügels verbreitet, denen zufolge die "unentschlossene" und "feige" Haltung der Staats- und Parteiführung die Schuld an der Zerschlagung der Republik trug. Als Konsequenz aus der jüngsten Geschichte sei die endgültige Trennung von allen Deutschen nach einer Wiederherstellung des Staates unabdingbar.

Die Prager Sozialdemokraten befürworten die Vertreibung

Dieser Argumentation hätte sich der kranke Exilant Benes immer weniger verschließen können, ihr aber spätestens Anfang 1942 zugestimmt. Obwohl der ebenfalls nach England geflüchtete Jaksch alles getan habe, um Benes von einem solchen Vorhaben abzuhalten, habe sich bereits nach kurzer Zeit ein tiefer Graben in den Auffassungen offenbart, der nicht mehr überbrückt werden konnte. So urteilte Jaksch schließlich, daß Benes "mit totaler Blindheit geschlagen" sei.

Bis heute nehmen die tschechischen Sozialdemokraten eine führende Rolle in der Verteidigung der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Böhmen und Mähren ein. Kurz vor den politischen Umbrüchen von 1989/90 habe es zwar erste kritische Stimmen wie von Jiri Grusa gegeben, die jedoch bis heute nicht mehrheitsfähig seien.

Besonders bedenklich wertete Sonka abschließend, daß in den letzten Jahren innerhalb der tschechischen Sozialdemokraten radikale Positionen nicht nur erneut Auftrieb erhalten hätten, sondern auch großen Anklang in der gesamten heutigen tschechischen Gesellschaft fänden. Anders sei es nicht erklärbar, so Sonka, daß die "Erinnerungen" des Ex-Ministerpräsidenten Milos Zeman, die sich in erster Linie aus "primitiven Beschimpfungen" nicht nur der Sudetendeutschen zusammensetzten, zum mit Abstand meistverkauften Buch in Tschechien seit 1989/90 wurden.

Der deutsche Sozialdemokrat Wenzel Jaksch 1938 im Prager Parlament: Nach 1920 allmählich mit derTschechoslowakei arrangiert


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