© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/05 15. April 2005

Es bleibt bei der Unberechenbarkeit
Hans Mathias Kepplinger und Marcus Mauer weisen anhand der Erfahrungswerte der Bundestagswahlen 1998 und 2002 nach, wie beschränkt die Demoskopie bleibt
Friedrich Karl Fromme

Der Titel dieses schmalen Buches trägt eine leicht wehmütige Note. Immerhin gründete sich das Ansehen der Demoskopie darauf, daß sie Vorhersagen erlaube über das Verhalten der Wähler. Das Beispiel der Bundestagswahlen von 1998 und besonders von 2002 widerlegt einen solchen Anspruch.

Dergleichen trat schon öfter zutage, immer dann, wenn die Wahlen erheblich anders ausgingen, als die Befragungen vorher vermuten ließen. Dabei ließ die seriöse Demoskopie, zu deren Vertretern Hans Mathias Kepplinger als Schüler von Elisabeth Noelle-Neumann ebenso zählt wie sein Schüler und Mitarbeiter Marcus Maurer, regelmäßig verlauten, daß sie keine Vorhersagen zu bieten habe, sondern nur eine Momentaufnahme. Kepplinger und Maurer relativieren ein Idealbild von der Demokratie: "Die Wähler sind davon überzeugt, daß sie sich an den realen Charakteren der Politiker orientieren, folgen aber Charakterfiktionen mit oft fragwürdigem Realitätsgehalt." Diese Fiktionen würden vor allem vom Fernsehen vermittelt. Die These, daß Wahlen "vom Fernsehen entschieden werden", wird von der Schule Noelle-Neumann seit langem vertreten.

Die Autoren stellen die verschiedenen Ebenen dar, aus denen die Meinungen des Publikums über Politiker und Politik folgen. Zunächst gibt es Prägungen der Wähler durch Erziehung und Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Schichten. Nur in zweiter Linie wird das Verhalten an der Wahlurne beeinflußt durch die Selbstdarstellung der Parteien im Wahlkampf. Dem schreiben die beiden Demoskopen nur einen vergleichsweise geringen Einfluß zu. Dieses komplizierte Geflecht wird überlagert von den jeweiligen Erwartungen, wer "gewinnen" werde. Viele Wähler schließen sich gern dem Sieger an.

Vor allem über die Figur des "Spitzenkandidaten", den es nach der Verfassung gar nicht gibt, gewinnen Fragen nach dessen Kompetenz und der Sympathie für ihn Einfluß auf die Entscheidung.

Kepplinger und Maurer messen der "Sachkompetenz" eine geringere Bedeutung zu als der aufs Persönliche bezogenen "Sympathie". Das belegen die Autoren vor allem anhand der Bundestagswahlen von 2002. Die "Kompetenzwerte" des Spitzenkandidaten der SPD waren und blieben deutlich niedriger als die des am Ende knapp geschlagenen Konkurrenten von der Union. Ihm gegenüber wurde der Spitzenkandidat der SPD beharrlich als sympathischer eingestuft, und das obwohl sich die Frage nach der "Sachkompetenz" auf ein wichtiges Thema bezog: Arbeitsplätze.

Ein Verdienst des Buches ist, daß der gängigen These, die SPD habe die Wahlen von 2002 gewonnen, weil sich Schröder in der Flutkatastrophe des ihnen vorausgehenden Sommers wirksamer, also tatkräftiger dargestellt hatte als sein Konkurrent, widersprochen wird.

Abschied also vom "rationalen", in seiner Reaktion im Wahlkampf berechenbaren Wähler? Dieser Abschied ist nicht nur kränkend für die Wähler, sondern auch für die Demoskopen. Vor allem ist er schmerzlich für die Politiker und ihre Wahlkampfmanager. Nur wer gewonnen hat, kann glauben, es richtig gemacht zu haben.

In solcher Unberechenbarkeit liegt aber auch ein Trost für die Wähler: die Politiker vermögen sich nicht so zu verhalten, daß der Sieg berechenbar wird. Den Wählern bleibt wenigstens ein Rest eigener Wirkungsmacht, der sich der Kalkulation noch so durchtriebener Wahlstrategen entzieht.

Hans Mathias Kepplinger, Marcus Maurer: Abschied vom rationalen Wähler. Warum Wahlen im Fernsehen entschieden werden. Alber-Reihe Kommunikation, Band 30. Verlag Karl Alber, Freiburg und München 2004. 195 Seiten, gebunden, 45 Euro


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