© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/05 22. April 2005

Vertreibung aus dem Abendland
Vergessene Literaten: Vor fünfzig Jahren starb der Schriftsteller, Mediziner und Exilant Martin Gumpert
Werner Olles

Martin Gumpert gehört zu jenen vergessenen Autoren, deren "stille, intime Prosa" (Hans J. Schütz) nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch jemand in Deutschland lesen wollte. So wurde auch sein letztes Buch, der 1948 im Amsterdamer Querido Verlag erschienene autobiographische Roman "Der Geburtstag", in dem Gumpert einen Tag im Leben eines New Yorker Arztes "mit intim-kennerischer Zärtlichkeit" (Klaus Mann) beschreibt, beim Publikum ein Reinfall und von der Literaturkritik weitgehend ignoriert. Erst 1985 wurde der Roman im Fischer Taschenbuchverlag neu aufgelegt. Man war inzwischen eher wieder geneigt, poetischen Berichten von Emigranten die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

Martin Gumpert wurde am 13. November 1897 in Berlin als Sohn eines Arztes geboren. Schon als Gymnasiast schrieb er Gedichte und gab eine kleine Zeitschrift heraus. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begann er Medizin zu studieren und promovierte 1923. Als Mitglied des "Rates geistiger Arbeiter von Großberlin" avancierte er bald zum bekannten sozialmedizinischen Reformer. Seine beiden Standardwerke "Geschlechtskrankheiten bei Kindern" (1926) und "Die gesamte Kosmetik (Entstellungsbekämpfung)" (1931) beschäftigten sich vor allem mit den Zusammenhängen zwischen sozialem Elend und bestimmten Krankheitserscheinungen. Seine Tätigkeit am Rudolf-Virchow-Krankenhaus trug dabei entscheidend zu seinem sozialpolitischen Engagement bei. Gumpert sah im Arzt den "einzigen potentiellen Revolutionär auf der Erde". Nur er könne vielleicht "jemals den Menschen bändigen und zähmen". Doch noch sah er in seinen Kollegen "erbärmliche kleine Geschäftsleute oder hochmütige Handwerker, die ihre Kunden listig und selbstzufrieden versorgten".

"Das letzte Buch eines Nichtariers im freien Handel"

1933 wurde Gumpert die Leitung der Klinik entzogen. Als im gleichen Jahr auch noch seine Frau starb, hatte dieser doppelte Schock das Ende seiner wissenschaftlichen Arbeit zur Folge. Zu völliger Untätigkeit gezwungen, lebte er nun zunächst in den Tag hinein. Seine Tochter Nina, mit der er in Berlin eine Wohnung teilte, überredete ihn schließlich dazu, wieder mit dem Schreiben zu beginnen. So erschien 1934 seine große Biographie über den Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann. Ein Jahr später konnte er noch sein Werk "Das Leben für die Idee. Neun Forscherschicksale" im S. Fischer Verlag veröffentlichen, nach seinen eigenen Worten "das letzte Buch eines deutschen Nichtariers, das im freien Buchhandel erscheinen konnte".

Nach seinem Ausschluß aus dem Schriftstellerverband stand Gumperts Entschluß fest, Deutschland zu verlassen. 1936 emigrierte er in die USA und ließ sich bereits ein halbes Jahr später in New York als Hautarzt nieder. Später spezialisierte er sich auf Geriatrie und wurde Chefarzt an der Geriatrischen Klinik des Jewish Memorial Hospital. Als Herausgeber einer Fachzeitschrift veröffentlichte er mehrere Bücher zum Thema, verfaßte über siebzig fachwissenschaftliche Artikel, unter anderem eine "Geschichte der Medizin", schrieb Gedichte, einen Roman und eine Autobiographie.

Seine dichterische Laufbahn hatte er schon als junger Mann begonnen, und während seiner Zeit als Sanitätssoldat in Türkei seine Anklagen gegen den Krieg in den "Weißen Blättern" publiziert. Kurz vor Kriegsende war sein Lyrikband "Verkettung" bei Kurt Wolff und ein weiterer mit dem Titel "Heimkehr des Herzens" bei Kiepenheuer in Potsdam erschienen.

In den USA wurde Gumpert zum unbestechlichen Beobachter, der in seiner Autobiographie "Hölle im Paradies. Selbstdarstellung eines Arztes" (1939) einen diagnostizierenden Epochenrückblick wagte. Eindrucksvoll beschreibt der Autor "das Selbstverständnis und die intellektuelle und emotionale Orientierung des deutsch-jüdischen Großbürgertums, seine soziale Sonderstellung, sein "Überpreußentum", seine unbedingte Bereitschaft zur Assimilation" (Hans J. Schütz). Über seinen Vater schrieb Gumpert: "Er war ein begeisterter abendländischer Humanist." Wie groß muß die Verbitterung des Sohnes gewesen sein, aus diesem Abendland vertrieben zu werden?

Als Emigrant war man ein formloses, haltloses Nichts

Zwar wollte er Amerika zu seiner neuen Heimat machen und sich eine neue Existenz aufbauen, aber der Ablösungsprozeß bedeute für den Flüchtling aus Deutschland eine äußerst schmerzhafte Zäsur: "Ich beschloß auszuwandern und fuhr über die Schweiz nach Paris. Nichts war schmerzhafter als dieser Ausflug in die Freiheit der Nachbarländer. Denn wenn man als Reisender schon ausgestoßen war, als Emigrant war man ein formloses, haltloses Nichts. Ich liebte Deutschland mit dem Eigensinn und Egoismus eines Kindes, und ich liebte es immer mehr in dieser sorglosen, heiteren, ahnungslosen Umwelt."

1938 erschien bei Bergmann-Fischer in Stockholm sein erfolgreichstes Buch, die historische Biographie "Dunant - Der Roman des Roten Kreuzes". Doch Gumpert blickte auch nach vorne. In "Der Geburtstag" beschreibt er zehn Jahre später ungeschminkt die Schattenseiten des American way of life, der ihm jedoch immer noch als "Paradies des Lebenskampfes, ohne sentimentalen Augenaufschlag, voll von Paradoxien, Konflikten, Unbegreiflichkeiten" erscheint: "In dieser Morgenstunde, ausgestreckt auf seinem Lager, in wundersamer Einsamkeit mit sich selbst, war er sich, vielleicht zum ersten und einzigen Mal, aller seiner Kräfte und Schwächen auf seherisch heitere Art bewußt. Er war satt und wußte doch, was Hunger ist. Er war reich, aber Armut lag hinter ihm und vor ihm. Er war gesund, schwebend im Gleichgewicht, aber jedes Zuviel, jedes Zuwenig würde Krankheit bringen, Melancholie und Ungewißheit. Es war eine Pause zwischen Jungsein und Altsein, in der Zeit etwas anderes war als sonst, stundenlos, ziellos, zeigerlos, eine riesige Gegenwart von fünfzig Jahren."

Am 18. April 1955, sieben Jahre nach der Veröffentlichung seiner Autobiographie, ist Martin Gumpert an den Folgen eines Herzleidens im Alter von 57 Jahren in New York gestorben. Seine alte Heimat konnte oder wollte er - wie manch andere Emigranten, die im Exil eine neue Heimat gefunden hatten - nicht wiedersehen. 


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