© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Unfassbar
In französischer Gefangenschaft
Hans Schöner

Wir hofften am Tage des Kriegsendes auf unsere Freiheit. Aber wir wurden nicht befreit! Wir mußten noch bis Ende 1948 Zwangsarbeit leisten. Ich erlebte das Kriegsende in französischer Gefangenschaft in der Nähe von Dijon in einem Arbeitslager der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF.

Auszüge aus meinem Tagebuch. Dienstag, den 1. Mai 1945: Wir mußten nur einen halben Tag arbeiten. Deshalb malte ich die Muttergottes als Altarbild für die Mai-Andachten der Katholiken fertig.

Freitag, den 4. Mai 1945. Das langersehnte Freßpaket vom Roten Kreuz ist da. Unglaublich: Vor uns liegen Kekse, Lebkuchen, Nudeln, Zigaretten, ein Päckchen Tabak. Wir freuen uns wie die Kinder. Immerhin sind wir schon acht Monate in Gefangenschaft, und es gab weder Post noch Pakete. Im ganzen Lager gab es zwei Ausnahmen. Bei den Kameraden in US-Gefangenschaft ist alles besser. Hoffen wir weiter, daß auch bei uns Normalität einkehrt.

Sonntag, den 6. Mai 1945. An meinem Geburtstag begann dank des Freßpaketes alles ganz fürstlich: Kaffee mit Milch. Der französische Lagerchef spendete zusätzliche Kekse und einen Pott voll Kartoffeln. Es gab nicht viel zu feiern. Hinter unserer Baracke kochten wir uns eine Kartoffelsuppe. Man merkte an der allgemeinen Stimmung, daß sich etwas tat. Aber wir wußten nichts genaues. Wir hofften nur, wenn nun der Krieg endlich zu Ende ist, daß wir entlassen werden.

Montag, den 7. Mai 1945. Es wurde immer sicherer, daß der Krieg zu Ende ist. Abends gegen 18 Uhr kam dann die Meldung: Der Krieg ist aus.

Dienstag, den 8. Mai 1945. Ich war beim Malen, da heulten die Sirenen. Die Glocken läuteten. Da war es wohl endgültig aus. Man kann es nicht ausdrücken, was wir fühlten. Wie mag es nun in Deutschland sein? Wie geht es meinen Eltern? Ist Gott noch bei uns? Trotz Kriegsende - das Essen geht vor. Zusätzlich vom Rot-Kreuz- Paket gelebt. Wir haben von der Küche je einen Eßlöffel voll Ölsardinen, Apfelmus und Schweinefleisch bekommen. Es ist kein Witz. Mehr war es nicht. Wahrscheinlich sollte es uns daran erinnern, daß es so etwas überhaupt noch gibt.

Samstag, den 12. Mai 1945. Gestern und heute kamen nur traurige Nachrichten. Neue Gefangene. Im wesentlichen aus Karlsruhe und Umgebung. Berichten, daß Pforzheim zu neunzig Prozent zerstört sei. Es habe mehr als 35.000 Tote unter der Zivilbevölkerung und anwesenden Soldaten gegeben. Heilbronn sei ähnlich zerstört worden. In Königbach, meinem Heimatdorf, seien die Bahnlinie entlang viele Häuser zerstört. Der Ort sei eingenommen, zurückerobert und wieder eingenommen worden.

Sonntag, den 13. Mai 1945. Der Versuch, ein Resümee zu ziehen. Dauernd hörten wir nichts als Gerüchte, nie etwas genaues. Bis dann am 8. Mai das Unfaßbare geschah. Deutschland lag am Boden. Der Waffenstillstand war unterzeichnet. Das ersehnte Kriegsende war da. Aber wie sah es aus? Über sechs Jahre Krieg. Schrecken und Not über ganz Europa, Deutschland zerbombt, unendlich viele Zivilisten sind tot.

Alles bewirkt durch eine Regierung, die dem Wahnsinn kein Ende gemacht hat. Ich kann alles noch nicht fassen. Als dann die vielen neuen Gefangenen ins Lager kamen und erzählten, wie es zum Schluß gewesen war, gab es uns den Rest. Die Neuen waren ältere Männer vom Volkssturm. Man hatte zum Ende noch Kinder und Greise eingesetzt - ohne Ausbildung in den aussichtlosen Kampf getrieben.

Hans Schöner, Königsbach


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