© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Vorzeitiges Ende
Flucht aus Ostpreußen im Frühjahr 1945
Ingrid Weber

Unsere Flucht begann genau am 19. Januar 1945. Es war grauenhaft kalt, und so nach und nach sind dann auch Kleinkinder und Babys umgekommen. Sie sind schlicht und einfach erfroren. Wir saßen inzwischen in einem Militärfahrzeug. Als dieses einmal halten mußte und wir unsere Notdurft verrichten konnten, wurden diese erfrorenen Kleinkinder sozusagen in einer Schneewehe oder einem verschneiten Graben "beerdigt".

Die Fahrt ging dann weiter, denn wir wollten unbedingt einen Bahnhof erreichen, um von dort dann weiter flüchten zu können ins "Reich". Wir kamen bis Rosenberg in Westpreußen. Dort stand ein Zug auf den Gleisen, in den wir direkt stürmten. Verwundete aus dem Lazarett in Rosenberg hinkten und humpelten dem Bahnhof entgegen. Wir - meine Geschwister und ich - verdrückten uns mit dem Kinderwagen in eine Ecke.

Als der Zug dann anfuhr, nahmen wir an, daß nun alles gut werden würde und die schreckliche Flucht ein Ende hätte. Auch stellte ich dann fest, daß unserem Baby die Windeln angefroren waren und es große Schmerzen haben mußte. Die Fahrt ging dann bis Bad Polzin, wo das Rote Kreuz uns sehr gut betreute und ein Herr uns für kurze Zeit aufnahm, denn wir verließen diesen Zug auch, um das Leben meines jüngsten Bruders zu retten.

Aber "die rote Walze" ließ uns nicht lange Zeit, aufzuatmen. Wir mußten dann wieder weiter. Es ging bis nach Schivelbein, und hier ereilte uns unser Schicksal. Am Himmel erschienen russische Flugzeuge. Meine Mutter, die gerade zum Einkaufen war, kam angestürmt. Sie hatte wieder einmal eine Fluchtmöglichkeit organisiert, und so liefen wir mit wenig Gepäck zu einer Stelle, wo ein Panzer stand, den wir dann bestiegen und abfuhren. Auch der Kinderwagen wurde auf den Panzer gehoben.

Auf dieser Fahrt sah ich dann - kaum daß wir abgefahren waren - die ersten Bomben fallen, die auf eine Kirche zielten. Wir kamen nur bis in die Nähe des Marktes und mußten dann den Panzer verlassen.

Wir liefen in das nächstbeste Haus und dort in einen Keller, um uns vor den Kampfhandlungen in Sicherheit zu bringen. Es dauerte nicht lange, und die Stadt war gefallen. Ab diesem Zeitpunkt waren wir auf Gedeih und Verderb den Besatzern der Roten Armee ausgeliefert. 

Ingrid Weber, Wilhelmshaven


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