© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Kälte & Durst
Gefangenschaft am Ural
Heinz Schwenk

Als Kriegsgefangene mußten wir nach der Kapitulation von Königsberg am 9. April 1945 einen unbeschreiblichen Fußmarsch bis nach Tilsit zurücklegen, mehr als die Hälfte des Weges lief ich auf Socken beziehungsweise Lumpen, da mir ein Sowjetsoldat meine Stiefeln gestohlen hatte.

Von Tilsit kamen wir nach Ragnit in ein Sammellager. Von dort ging es in Güterwaggons gepfercht in Richtung Osten beziehungsweise ins Ungewisse. Immer wieder kam es zu längeren Halts an oder in Nähe von Bahnhöfen. Anläßlich eines solchen Halts näherten sich etwa ein Dutzend sowjetische Soldaten unseren Waggons, schossen mit Gewehren und Maschinenpistolen in die Luft und schrien immer wieder "Wojna kaputt, Hitler kaputt". So folgerte ich, daß der Krieg zu Ende war. Ich dachte nur an meine Eltern mit der immer wieder bangen Frage, wie und ob sie die Katastrophe überstanden haben und was mir selbst noch bevorstehen sollte.

Im Sammellager Tilsit hatte uns ein hoher, sich väterlich gebender Offizier der Roten Armee - zwecks Benachrichtigung der Angehörigen - noch auf unsere Frage beschwichtigen geantwortet, daß wir früher zu Hause wären, als in unserem zerstörten Land unsere Post ihre Adressaten erreichen würde. Gegen Ende Mai 1945 erreichten wir den Ural, landeten in dem Waldlager Resch im Raume Swerdlowsk (heute wieder Jekaterinenburg). Schwere Waldarbeit, Unterernährung und die dadurch entstehenden Erkrankungen (es gab keine Medikamente - ich kann mich nur an in der Lagerküche gewonnenes Kartoffelmehl als Wundpuder erinnern) waren die Ursache, daß bis zum 24. Dezember 1945, als ich in ein anderes Lager transportiert wurde, mehr als die Hälfte der etwa 3.000 Gefangenen gestorben waren.

Dieser Heiligabend-Transport ist mir wegen der gegebenen Umstände in besonderer Erinnerung. Es war klirrend kalt, so um die minus zwanzig Grad Celsius, die Güterwaggons hatten zwei Ebenen links und rechts der Schiebetüren, in der Mitte, also zwischen den Türen ein kleines Kanonenöfchen, ein paar mächtig dicke Holzscheite und einen Holzkübel für die Notdurft. Aber es waren weder Werkzeuge zum Kleinmachen des Holzes noch Streichhölzer vorhanden. Somit blieb der Ofen unbenutzt.

Auf dem mehrere Tage dauernden Transport erhielten wir pro Kopf und Tag einen Salzhering gefroren, eine kleine Scheibe Brot, aber kein Wasser. Nach dem Verzehr des ersten Herings war keiner von uns in der Lage, weitere Nahrung zu sich zu nehmen. Wir brüllten zum Begleitkommando fortwährend nach Wasser, kratzten den durch unseren Atem gebildeten und durch die Kälte gefrorenen Reif von den blechbeschlagenen Schiebetüren. Der Notdurftkübel wurde einmal täglich geleert und konnte dann mit Schnee gefüllt werden. Einer von uns machte dann Schneebälle. Jeder paßte auf, daß gerecht verteilt wurde. Aber in der gespannten Atmosphäre extrem durstiger Menschen kam es schnell zu Streitigkeiten um die Größe der natürlich nicht immer für alle gleich großen Schneebälle.

Als Befreiung deute ich einzig und allein den 7. November 1949, den Tag meiner Heimkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft.

Heinz Schwenk, Königstein

Foto: Eine Engelsfigur nach einem alliierten Luftangriff 1945 auf München


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