© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Europa wird ein Vorort von Amerika
Frankreich: Linke und Rechte machen gegen die EU-Verfassung mobil / Ausgang des Referendums ungewiß
Helena Schäfer

Jedes Land, das diese Verfassung ablehnt, schwächt sich und bringt sich ins Abseits. Dies wäre für ein Land wie Frankreich besonders zureffend", erklärte der französische Außenminister Michel Barnier am Rande der EU-Außenministertagung letzte Woche in Luxemburg. Der Politiker der bürgerlichen Regierungspartei UMP betonte zugleich, daß im Falle eines Scheiterns der Ratifikation in einem EU-Land, "es erst nach sehr langer Zeit zu neuen Verhandlungen kommen" werde.

Die Sorge Barniers ist keineswegs unberechtigt. Während der letzten Monate hat sich Frankreich in zwei große politische Lager gespalten: in Befürworter und Gegner der EU-Verfassung. Daran hat auch der spektakuläre Fernsehauftritt von Präsident Jacques Chirac am 14. April, in dem er die Verfassung verteidigte und die kritischen Fragen junger Franzosen beantwortete, nichts geändert.

Am 29. Mai sollen die Bürger Frankreichs über die Ratifizierung der Verfassung abstimmen - und die Mehrheit ist skeptisch. Dem Land, das sich seit der Revolution von 1789 als Vorreiter und "Überflieger" der europäischen Geschichte begreift, fällt es nicht leicht, sich einer höheren Macht unterzuordnen und ein Staat von vielen zu werden. Trotz umfangreicher Werbung seitens der Regierung und Teilen der linken Opposition sind die Verfassungsgegner optimistisch.

Den Umfragewerten Anfang April zufolge wollten nur 45 Prozent für die EU-Verfassung stimmen, 55 Prozent dagegen. Nach der letztes Wochenende veröffentlichten Befragung des Sofres-Institutes wollen 52 Prozent mit Ja und 48 Prozent mit Nein stimmen. Allerdings sind über 40 Prozent der Bevölkerung noch unentschieden oder gleichgültig.

Dabei will nicht nur die Regierungspartei dem Volk die EU-Verfassung schmackhaft machen. Bei der Positionierung der Parteien läßt sich folgende Tendenz erkennen: während die meisten kleineren linken wie rechten Parteien die Verfassung ablehnen, wird sie von den größeren Parteien mehrheitlich unterstützt. Ohne innerparteiliche Konflikte kommen dabei die wenigsten aus.

Versteht es sich für Chiracs UMP noch von selbst, für die Verfassung zu plädieren, kommt das offizielle "Ja" der Sozialisten (PS) eher überraschend. Parteichef François Hollande muß vor allem bei seinen eigenen Leuten extreme Überzeugungsarbeit leisten, widerstrebt es diesen doch, dasselbe wie Chirac zu wollen. "Um die Wahlen von 2007 zu gewinnen, müssen wir 2005 einen Schritt in die Zukunft wagen", argumentiert der PS-Chef. Diese Logik können seine Genossen nur schwer nachvollziehen. Ähnlich ergeht es den französischen Grünen. Die Partei hat sich offiziell für die Verfassung ausgesprochen, an der Basis löste dies aber große Unzufriedenheit aus.

Klar gegen die EU-Verfassung sind Jean-Marie Le Pens Front National (FN) und kleinere rechte Parteien wie der MNR von Bruno Mégret, die Altgaullisten um Charles Pasqua, sowie alle Linksaußen-Parteien: die Alt-Kommunisten (PCF) sowie die drei Trotzkisten-Parteien Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf/LO), Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und die Parti des Travailleurs (Arbeiterpartei/PT). Die Hauptgründe dafür wurzeln in der kritischen Einstellung zur Globalisierung und der wirtschaftsliberalen Europapolitik, deren Institutionalisierung man durch die Verfassung befürchtet. Auf der rechten Seite kommt die Angst vor dem Verlust der nationalen Identität hinzu, auf der linken sorgt man sich wegen der Ausgrenzung von Nicht-EU-Bürgern.

Die Gegner der EU-Verfassung befürchten vor allem eine Verschärfung der sozialen Frage. Sie argumentieren, daß die weitere Liberalisierung des EU-Binnenmarktes (Hauptkritikpunkt ist die nun verschobene Dienstleistungsrichtlinie von Ex-EU-Kommissar Frits Bolkenstein, JF 10/05) Massenarbeitslosigkeit und Elend mit sich bringen werde. Desweiteren wird die Abgabe der freien Entscheidungsmacht an nicht gewählte Organe und die Errichtung eines riesigen Polizeistaates - etwa bei der Terrorismusbekämpfung - befürchtet.

Die Verfechter der Verfassung hingegen rufen die Franzosen dazu auf, ihre Ängste nicht instrumentalisieren zu lassen und die Idee von einer friedlichen EU nicht aufzugeben. Der Abstimmungskampf ist in vollem Gange.

Bücher mit plakativen Titeln wie "Oui" oder "Non" werden geschrieben, Pro- und Kontra-Kolumnen geschrieben, endlose Debatten geführt, Plakate geklebt. Regen Anteil nehmen vor allem die Studenten. An den Unis werden massenhaft Diskussionsrunden veranstaltet und Flugblätter verteilt: Eines zeigt eine lächelnde Condoleezza Rice und den US-Präsidenten: "Warum sind die beiden so fröhlich?", lautet die Frage auf dem Deckblatt. Die Antwort folgt auf der nächsten Seite: "Weil sie denken, daß die Franzosen der EU-Verfassung zustimmen und Europa bald zu einem Vorort von Amerika wird."

Viele trauen der EU-Verfassung auch deswegen nicht, weil sie eine "amerikanische Initiative" dahinter vermuten. Ein an die Einheitsverfassung gebundenes Europa mit gemeinsamer Außenpolitik ließe sich noch einfacher beeinflussen und steuern als das bereits der Fall wäre - EU-Verfassungsbefürworter behaupten genau das Gegenteil: Ihre Gegner würden Europa schwächen und so indirekt den USA in die Hände spielen.

Oft sind die Argumente auf beiden Seiten paradoxerweise verblüffend ähnlich. Die Befürworter der Verfassung sehen in ihr eine Chance, für ein demokratischeres und sozialeres Europa. Die Gegner sehen in der Ablehnung die Chance für einen sozialeren und demokratischeren Text: "Aus Liebe zu Europa sage ich nein", lautet eine der Parolen.

"Eine Ablehnung wird Frankreich marginalisieren", warnen die Befürworter. "Durch die EU-Verfassung wird Frankreich marginalisiert", befürchten deren Gegner. So entsteht der Eindruck, die Franzosen übertrügen auf die Verfassungsfrage ihre innenpolitischen und unmittelbaren Probleme. Um den tatsächlichen Inhalt geht es jedenfalls kaum. Zwar gibt es die EU-Verfassung an jedem Kiosk zu kaufen und zum Bestseller avanciert sie auch, aber konkrete Auswirkungen auf das Leben des Einzelnen und die Zukunft des Landes im allgemeinen lassen sich daraus schwerlich ableiten.

Zwei Drittel der französischen Bevölkerung fühlen sich trotz aller Diskussionen und Kampagnen schlecht informiert. Das ist ein weiterer, nicht zu verachtender Grund für die ablehnende Haltung. 72 Prozent der "schlecht informierten" geben an, mit Nein stimmen zu wollen. Doch noch ist alles offen.


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